Montag, April 24, 2006

Lob der Provinzialität

"Also gut - Wachtendonk!" war mein erstes Echo, nachdem wir wussten, wohin es uns ziehen sollte. "Da hängt doch der Hund über´n Zaun!" sagte Ronald kopfschüttelnd und verließ - zeitgleich mit uns - sein geliebtes Köln Richtung Berlin. "Lange wirste dat da eh nich aushalten", behauptete meine Freundin Sabine und wendete sich ihrem gemütlichen Mülheim wieder zu.

Es kam wie es kam. Wie es meistens kommt.
Keiner hatte recht. Auch ich nicht.

Gerne wäre ich damals weggegangen.
Ganz weg. Und weit weg.

Die eigene Witterung suchen. Das Weite dazu. Fast schien alles bereit zu stehen. Nur der letzte Schritt fehlte noch. Destination Zürich. Little big town. Kunst Kultur Kommerz. Bänker, die zu Mittag im See schwimmen gehen, um dann nach 30 Minuten wie unverändert wieder ins Business Leben zu krabbeln. Hundert und eine Liebeserklärung kann ich zu Zürich geben. Stadt der Literaten und Vertriebenen - mein gemachtes Bett, fühlte ich mich doch selber früh zugehörig. Eine innere Verbindung, die kaum auszudrücken ist. Zürich war also die Jacke , in die ich nur hinein schlüpfen musste.

Allein - ich tat es nicht. Und so wurde es dann Wachtendonk.

Und meine Vorurteile waren klar: Schwarzer Niederrhein. Provizialität. Enge. Bauern und Zuckerrüben. Der Geruch von Jauche, wenn der Westwind weht. Eine voll konservierte Altstadt, die einem Museum glich. Roter Backstein. Überall. Kaum Freunde, aber ALDI. Immerhin. Alles zusammen unter Denkmalschutz.

Nicht, dass es mir hier nicht gefiel.

Es gibt Landschaft satt.
Es gibt hier überwiegend nur Landschaft.
Eigentlich gibt es hier nichts als Landschaft.

Immerhin auch eine Feststellung. Ein erster Erfolg beim Alltagsbuchstabieren.

Als Dreingabe ein unendlich weiter Himmel. Einfach so. Man blickt nach oben, nach vorne, zur Seite ... überall Himmel zu sehen. Zeichenspiele der Wolken in wandernden Licht.

Sonnenuntergänge als Spiegelbilder der Seele. Rot umränderte Linien an Wolken. Der glühende Sonnenball über dem letzen Acker, bevor er ganz verschwindet. Stille Abschiede. Gute Nacht. Kopfweiden stehen an Fluss und winken von ferne.

Alles war anders als gewohnt. Der Himmel macht die innere Dehnung des Herzens, sagte mal ein kluger Mensch. Spiegelt, wiederholt und bricht das Eigene. In tausenderlei Grau verfärbt, dann plötzlich ein bestechtend klares Blau in weiter Tiefe. Himmel, der mit dem Licht flirtet. Schäfchen Wolken als arglose Ankündigungen. "Heute soll es wieder regnen," sagen sie und die Bauern freuen sich.

Früh gehen die Rollanden runter. Der Tag endet bei Dunkelheit. Oft auch früher. Kein Mensch mehr auf der Straße. Manchmal Hunde, die ihr Herrchen Gassi führen. Früh ist man bei sich und unter sich hier. Anders als sonst. Das Wort "Nachtleben" beschreibt den Widerspruch in sich.

Dennoch sind Entdeckungen zu machen. Völlig unerwartet. Ein unverbindliches Gespräch an der Burgruine. Zwei Tage später erhielt ich eine Einladung. Ein Gegenüber mit Lachen. Vertraute Sprachmelodie. Kratzlaute im Hals. Dann das entscheidende Wort: "Luxemburgerli". Mitten in Wachtendonk. Das muss man sich vorstellen! Das kennt nur, wer Zürich kennt. Verena lächelt mich an: "Ja, da bin ich geboren !" Und das alles nun keine 80 Meter von mir entfernt. Unglaublich.

Die Zeit vergeht und wie versetzt in andere Welten tauschen wir uns aus. Die alten Wege, das Kopfsteinplaster im Niederdorf, die Geschichten der Vertriebenen und das Chüpli Sekt im Cafe Odeon - alles wird gegenwärtig. Wie gestern geschehen. Wie immer noch da und nie verschwunden.

Wer sagt es denn? Zürich reist mir nach. Und ich kann endlich bleiben. Tief atme ich durch und entdecke nach und nach mein kleines, internationales Wachtendonk. Little big town am Niederrhein.

Morgens begegnet mir Stephen mit seinem Jackl Russel "Muffin". Ein Brite mit ebenso kurzen Beinen. Lachend tauschen wir uns in besten, breitem Englisch auf der Straße aus: "How are you?" Bei der Rückkehr lächelt Annegret und begrüßt mit niederländischem Akzent. Sprachen treffen sich in Wachtendonk. Immer und überall. Internationale der Vertriebenen. Oder Angekommene. Angeschwemmt, wie der Volksmund hier sagt. Aber was macht das für einen Unterschied, jetzt?

Dazwischen ist jede Menge Platz für Wolken und heruntergelassene Rolladen. Für all das Klein-Pittoreske, was die Menschen hier liebenswert und besonders macht. Wachtendonk atmet. Auch nachts. Immer noch.

Gestern rief Roland an. Nach langer Zeit. Es wäre wohl doch nicht so toll in Berlin. Ausserdem hat ihn sein Freund verlassen. "Ich will wieder zurück. Es geht mir beschissen. Was macht Ihr denn eigentlich so?"



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