Montag, April 10, 2006

Laufsohlenkatalog. Biographisch paniert.

Nachdem ich hier in den letzten zweieinhalb Jahren zunehmend verfettet bin - merkwürdiger Weise ist diese Zeit identisch mit der meines politischen Engagements – habe ich mich der Mühe unterzogen,und meine bisherigen Joggingstrecken ausgearbeitet. Eine Art Laufsohlenkatalog. Biographisch paniert.

Das Laufen selber entwickelte sich bei mir mehr und mehr zu einer Art Meditation. Eine eigene Zeit - den Atem und Rhythmus zu spüren. Beine und Lungen im gleichen Takt. Ein Körper, der gefordert wird. Ein Kopf, der frei wird. Eine Übung, die ich hier in Wachtendonk sträflich vernachlässigt habe. Deswegen gab es heute eine neue Jogginghose plus Shirt. Okay, wir wissen, wie solche Vorhaben ausgehen können. Ich bin gespannt.

Aber diese Frühlingsluft perlte mir heute morgen in der Lunge. Rocco – mein Hund – möchte gerne mitlaufen. Erste Strecken gelingen wieder. Komisch: Alles was der Körper einmal gemacht hat, kann er wieder tun. Ein Gedächtnis, besser als unsere Gehirne. Leibarchiv, sagte ein kluger Mann dazu. Es wäre eine fotographische Strecke wert, die in Jahren und Jahrzehnten verschlissenen Schuhe aufzulisten in eine Reihe – gequälte Innnenleben, gelaufene Kilometer.


1. Zivildienst im Ev. Bethesda Krankenhaus
1977
Die Strecke ging über Schloss Borbeck in den Schlosspark hinein. Abendliche Runden nach dem Dienst, um den Kopf frei zu bekommen. Nebenher eine neue Leidenschaft. Schwimmen im Schwesternheim.

2. Kirchliche Hochschule Wuppertal 1979
Laufen über die sog. Hardt mit wunderbarer Aussicht über das Wuppertal. Ein Tal, eine Strecke. Ausflüge aus dem KiHo-Alltag. Bis eine freudige Begrüßung einer Deutsche Dogge ( Zitat: „Die macht nichts, die will nur spielen!“ ) mir die Angst unter die Poren trieb. Danach verlegte ich mich auf sporadisches Fußball spielen. Und sonst – Studieren. Was sonst?

3. Pastorin im Hilfsdienst Mülheim Ruhr 1993
Erst musste ich aufhören zu Rauchen, bis ich das Prickeln in den Lungen wieder wahrnehmen konnte. Jeder Atemzug klar wie sonst nichts. Es ging die Ruhr entlang, immer wieder am Ruhrauenweg. Thyssenpark, der Bootsanleger. Der schwimmende Ruhrpott und dann zur Mendener Brücke. Am Fluss entlang durch Nebel der Saarner Aue. Über das Stauwehr im Takt meiner Schritte. Der Spurt zum Wasserbahnhof und zurück nach Hause. Meine schönste Strecke. Dort, wo ich zu Hause war.

4. Pastorin im Sonderdienst Köln Chorweiler 1995
Hier wollte ich nicht hin, hier kam ich hin. Immer wieder durch Betonsiedlung und –schluchten vorbei bis an den Fühlinger See. Alles künstlich angelegt, gestaltet und begradigt. Dennoch die Enten grüssen. Flucht in alte Rituale. Die Hoffnung, sich selber zu entkommen. Dazwischen eine Trennung, die tief unter die Seele brannte. Eine Entlassung aus dem kirchlichen Dienst aufgrund „atmosphärischer Störungen“. Gut war, weg zu kommen.

5. Köln Langel 1996
Nach meinem Umzug an den Rhein – Ausblicke auf fließendes Wasser. Die Ahnung von Veränderung. Schiffe, die mit sonorem Brummen meinen Weg begleiteten. Stromaufwärts zunächst an der Fähre vorbei, die Sommer wie Winter fuhr. Rheinwasser und Wind. Kehrtwende bei der Maischefabrik. Zurück im gleichen Tempo mit den Schiffen. Ab und ein ein flüchtiger Gruss.

6. Köln Südstadt - Eifelstraße 1997
Mitten in Köln drei Runden durch den Stadtwald. Deutliche Autoabgase. Und dreimal dieselbe Strecke. Geduld und der Wunsch nach offenem Land. Kinder lachen. Der Rosengarten am alten Fort duftete. Ich rieche ihn heute noch.

7. Kur in Oberstdorf / Allgäu 1998
Der schmale Weg steil hinab Richtung Breitachklamm. Eine schmale Brücke und Wasser, eiskalt und klar. Eine Luft, die perlt. Steigungen werden mit Leichtigkeit gemeistert. Körperlich habe ich mich nie mehr so wohl gefühlt. Ankommen bei Wildwasserrauschen, dann die Anhöhe zurück. Den Köper loslassen. Er macht es von alleine. Den Kopf frei bekommen. Die Seele reist nach.

8. Meersburger Fluchten 1999
Am See gelandet und grandiose Aussichten am Schloß. Am Hafen Schneespuren, die Treppe hoch zu Anettes Gärtchen, die unendlich steile Treppe, auf der Beatrice mich sah. Oben Aussichten und Seegewohnheiten, manchmal der Säntis überm See. Einen Moment Stillhalten. Die Flucht begreifen. Dann zurück über Wege, die meine Eltern in den Flitterwochen nahmen. Auch das wusste ich damals noch nicht.

9. Konstanz 1999
Der Biss zum Bismarckturm hoch. Elendig lange Steigung und nur langsam, Schritt für Schritt. Oben eine wunderbare Belohnung. Der Blick über den See, die Stadt, die Berge. Unglaubliches Panorama und Weite. Und weiter ging es dann – der Wald und ein wunderbar weicher Boden. Der Rückweg über den Friedhof. Immer noch schwirren mir einige Namen im Kopf. Verstorben und doch Begleiter. Zum Schluss auch hier neuerdings ein Spurt.

10. Zürich – Enge
2000
Von der Scheidegg an den See hinunter, durch den wunderschönen Bellerive Park hindurch. Nebenan die Eidgenössische Hotelfachschule. Am See die Fontäne, dann den See entlang. Das Schlagen der Leinen an die Alustangen der Segelboote. Bellvue bis Zürihorn. Die schönste Strecke. An Tinguelys Heureka umkerhen. Über quadratische Steine im Wasser am Seeufer zurück. Hinwege und Rücksichten derselben Strecke ähneln sich nicht. Am Baur au Lac ein Lächeln, wenn der Dampfer abglegte. Die Enge Badi, die früher die jüdische Mikwe abgab. Dann wieder durch den Park und zurück.

10. Kölner Besuche 2001
Am Rhein Rennen – vom Rheinauhafen bis zur Südbrücke, Wege die ich Jahre zuvor mit dem Rennrad machte. Ausflugsboote in Rot Weiß. Die Autobahnbrücke und am grünen Ufer zurück. Schiffe und Züge – eine seltsame Mischung. An der Bismarckbrücke ein Blick auf den Dom, der Schatten wirft. Die andere Seite zurück – oft durch Touristen und Spaziergänger hindurch. Bei sich bleiben, nicht stehen bleiben, sich nicht ablenken lassen.

11. Morgarten – Zug 2001
Bei Rolf jeden Morgen meine Runde gedreht. Anfangs durch grüne Auen den Berg hoch, wunderbares Panorama mit Blick auf den Rigi, dann durch den Wald, frischgeschlagenes Holz und in sanften Kurven wieder an den See hinunter. Rolf hat bei der Rückkehr schon Kaffee gemacht. Danach dann rund um den Aegerisee. Unglaublich, aber Schritt für Schritt. Vorbei an den Paragildern. Die wunderbaren Seehäuser. Schotterstrecke und Asphalt. Nicht mehr nachdenken und ankommen. Zum Schluss eine Zerrung, die immer wieder aufbrach.

12. Krefeld - Stadtwald 2002
Von der Uerdinger Str. über die blühenden, wilden Möhren an der Jentges Allee in den Stadwald. An der Hundewiese entlang und bis zur Trabrennbahn. Über den Weißwurstäquator zurück, den Geruch der Herz-Jesu-Suppen aus der Hüttenallee noch in der Nase. Ab und an ein Hund zur Seite. Der Wunsch nach mehr.

13. Wachtendonk 2003
Ankommen und weitermachen. Über den Grünen Weg des geplanten Gewerbegebietes bis an die Niers, Kopfweiden und Nebellandschaften, Wölkchen vom Atem. Graureiher und Fasane, ab und an ein Bussard über mir. Idyllische Landschaft, auf dem Rückweg Kühe und Schweinegeruch. Danach wurde der Durchgang zum Feld versperrt. Irgendwann lief ich nicht mehr. Schade.

Aber Dinge können sich ändern.

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