Mittwoch, März 12, 2008

Jetzt habe ich nur noch ihn ...

Selten geschieht es, dass ein Bestatter mich anruft, ohne dass er einen neuen Auftrag für mich hat. Eine Trauerrede zumeist. Das ist ja, was ich kann. Was ich anbiete und mag: Nachrufe schreiben auf die Menschen, die ich selber nicht kennen gelernt habe. Eine seltsame Aufgabe, sagen die einen. Respekt, die anderen.

Nun aber klang es am Telefon anders: "Hallo Frau Kammann. Heute muss ich sie ganz persönlich anrufen!" - Welch ein Beginn. Er machte mich stutzig. Von Anfang an. Nicht, dass ich nicht auch mal einen Bestatter gecoacht hätte. Die haben es beim "Geschäft mit dem Tod" manchmal bitter nötig. Und auch nicht so, dass sie keinen Austausch und Anregungen annehmen würden. Ganz im Gegenteil. Ich wundere mich nur, dass es so wenig geschieht. Vielleicht, weil sie ihre Verbände haben und der Mensch an und für sich, vor allem der Deutsche und dann noch der Niederrheiner, eben ein Verbandsmensch ist und bleibt. Obwohl es doch ein einsamer Job ist - dieses Bestatten.

Den Namen des Anrufers konnte ich leider gar nicht verstehen. Reden sollten sie lernen. Die Bestatter. Laut und deutlich. Unverdrossen aber wurde weiter getextet: "Also bitte, hören sie mir mal zu. Hier sitzt Frau M. neben mir und der haben sie die Tochter beerdigt. Da erinnern Sie sich doch ... ?"

Es klang wie eine Drohung. Wie sollte ich mich erinnern, bei einem Bestatter, dessen Namen ich nicht kannte und an eine Frau, die mir nicht gegenüber saß zudem in einem Fall, der sicherlich schon länger her war? "Meine Güte", dachte ich da, "ich bin doch auch nur ein Mensch." Wahrscheinlich hatte mein Gegenüber gerade alle Daten auf ein Blatt Papier gesammelt vor sich und dachte, in meinem Kopf wäre es ähnlich.

Es ist ja schon schlimm genug, sein eigenes Kind beerdigen zu müssen. Unfassbar schlimm - sogar. Aber dass mir alles auf Knopfdruck einfallen kann - unmöglich. "Tut mir leid" , sagte ich und dann noch: "helfen Sie mir auf die Sprünge."

Derweil war ich krampfhaft damit beschäftigt, zu erraten, wer denn da mit mir spricht. Bestatter gibt es ja viele. Manchmal auch zu viele. Kann sein, der Anrufer gehörte wahrscheinlich unter letztere.

"Sagen sie einfach ja oder zumindest, ob sie etwas dagegen haben. Das wäre mir doch lieb," kam es vom anderen Ende der Leitung. "Wenn überhaupt möglich, rufen sie doch bitte Frau M. persönlich und unverzüglich an. Die Nummer haben sie ja noch. Guten Tag !" Sagte er und - klack!! - legte auf !

Wie ich das hasse.

Da sass ich nun und musste mir die Dinge zusammen reimen. Eine Frau saß bei einem Bestatter. Das ist nichts Ungewöhnliches. Der rief mich an, aber nicht wegen einer Trauerrede, die ich noch halten sollte, sondern wegen einer, die ich schon gehalten hatte. Aha? Und obwohl diese gehalten war, saß die betreffende Frau schon wieder. Derselbe sah keinen anderen Ausweg, als mich persönlich anzurufen. Dabei ging es um eine Zustimmung von mir. Wozu auch immer?

Wissen Sie es?
Ich nicht !

Ich brauchte dringend frische Luft. Rocco sah mich erwartungsvoll an, als ich die Treppe nach unten ging. Er stupste mit der Nase an meinem Bein. Jetzt bin ich aber dran! Ja doch, das ist verlässlicher. Er kennt seine Zeiten. Als wir zurück kamen, überlegte ich erneut.

Ein Hochhaus tauchte auf in meiner Erinnerung. Es war die sechste oder siebte Etage. Ein sehr enges Treppenhaus mit diesem PVC auf dem Treppengeländer. Das, was einen statisch auflädt, wenn man oben die Menschen begrüsst. Ein eingebauter Schreck. Es war ein Wohnblock in Rheinhausen. Einer neben anderen. Alle weiß, wovon bedingt noch etwas zu sehen war. Draußen lagen die Parkplätze. Autos in Reihen gestapelt. Dazwischen Wohnklötze mit Menschen drin.

Ja, es war ein Trauerbesuch auf der sechsten Etage. Mit wenig Informationen vorab. Eine Frau war gestorben. Und eine Mutter trauerte. Die sollte ich besuchen.

Also ging ich damals die Treppen hoch. Der Charme der 70er Jahre umfing mich. Glatte Türen mit Spion, damit man weiß, wer da ist. Die raue Wirklichkeit fängt zehn Zentimeter vor der Türe schon im Treppenhaus an. Sicherheit und doppelte Türschlösser. Wer weiß schon, wer da kommt?

Es dauerte, bis ich oben war.
Die Türe stand offen.

"Hallo?" "Ja kommen Sie rein. Ich sitze in der Küche ..." Dann trat sie aus der Türe. Sie war klein, sehr klein. Ein Haufen Mensch, mochte ich denken. In sich geschrumpft. Einfach so. Ein sehr neugieriger Blick von unten nach oben durch eine dicke Brille begegnete mir. "Frau Kammann?" "Ja, die bin ich! Ich bin hier wegen der Trauerfeier!" "Ja, meine Tochter ... " schaffte sie gerade noch, um kurz darauf in Tränen auszubrechen.

Der Wellensittich schrillte in der Küche. Ein eingerührter Cappuchino von Aldi stand auf dem Tisch. "Wollen Sie auch einen? Ich mache Ihnen gerne einen", sagte sie und ohne die Antwort abzuwarten, holte sie eine Tasse raus und rührte mir die braune Brühe an.

"Meine Tochter hat den auch so gerne getrunken ... !" Und abermals schüttete sie ihre Trauer aus. Es war eruptiv. Einfach so wie es kam, verschwand es auch wieder. "Nehmen sie doch Zucker. Sie hat immer Zucker getrunken hier!" Fünf Minuten später gingen wir durch die Wohnung.

Sie war klein und eng, diese Wohnung. Eher eine Puppenstube als eine Wohnung. Dunkel und mit dieser unsagbaren Holz Styropor Decke, die die Räume noch kleiner machten. Im Wohnzimmer lagen Kartons und Kästen. "Schauen sie nur, das alles hat ihr gehört!" Mit fahriger Geste deutete sie an die Wand . "Dort standen ihre Zinnbecher. Sie hatte so viele gesammelt, dass ich sie jetzt zusammen getan habe. Wo sollte ich auch hin damit?"

Im Schlafzimmer fand sich ein Doppelbett mit elektrischem Motor und Fernsteuerung. "Hier hat sie zuletzt nur noch gelegen und raus geschaut!" Der Blick ging frei auf fünf weitere Wohnblocks. Ernüchternde Aussichten. Fünfmal dasselbe wie jetzt auch schon. Auf der Bett Kante saßen nun um die 20 Stoffhasen auf einer gesteppten Tagesdecke. "Das waren alles ihre Kinder, die musste sie um sich haben ... !" kam es von der Seite , eher stolz als rechtfertigend. Und dann brach sie erneut in Tränen aus.

Beide lebten hier bis zum Tod der Tochter. "Ja, sie ist hier gestorben. Direkt neben mir. Ich habe sie abends noch gestreichelt und dann bin auch ich eingeschlafen. Und morgens, da war da nichts mehr.... !"

Unheilbarer Krebs, war die Diagnose. Plus der Unmöglichkeit, die Mutter zu verlassen. Alleine zu lassen. So hatten die beiden die letzten Monate verbracht. Ungesehen in einem Haus mit über zwölf Mietparteien. Man wusste vielleicht etwas, ahnte es. Aber niemand sprach mit ihr. Nur ihr Wellensittich, der auch jetzt kräftig sich bemerkbar machte.

"Kommen Sie doch, ihr Cappuchino wird kalt!" sagte sie und zog mich energisch in die enge Küche zurück. Auf dem Tisch stand ein kleiner Springbrunnen. Ein kleiner Teppich war als Tischdecke ausgelegt. Wir redeten zwei Stunden und als ich mich verabschiedete, lächelte sie mich an. Als ob nun schon alles gesagt war. Als ob ich nun das Boot war, dass ihre Hoffnungen trug und ausschickte in die Welt.

Damit sie endlich bleiben konnte.
Dort wo sie war.

Nun kehrte meine Erinnerung an dieses Geschichte zurück. Ja, es war die Tochter, die da gestorben war. Und die Mutter, die nicht weiter kam. Der die Zeit unter den Fingern stehen bliebt und der nur der Wellensittich blieb, um sie ins Leben zurück zu holen. (1) "Jetzt habe ich nur noch ihn", sagte sie mir zum Abschied.

Kann sein, der Bestatter meinte diese Geschichte und diese Frau. Und langsam fielen mir die Erinnerungen wie Mosaiksteine ins Gedächtnis. Und dann wählte ich die Nummer, die mir der Bestatter gab und hörte die mir vertraute Stimme:

"Hallo Frau Kammann, schön dass sie anrufen!"





__________________________________

1. Auch bei Alexis Sorbas findet sich eine wunderschöne Szene über das Sterben. Dort kommen die Klageweiber und trauern und machen den Schmerz - stellvertretend - öffentlich. Und Alexis Sorbas alias Anthony Quinn betritt den Trauerraum mit der aufgebahrten Toten und schaut sich um. Still und ohne etwas zu sagen. Sieht die Klagefrauen. Sieht die Tote. Und dann, in der Ecke steht ein Vogelkäfig. Den nimmt er mit und geht. Ohne ein Wort zu sagen. Mehr nicht und doch ist diese Geste schon alles, um sich für das Leben zu entscheiden.

2. Wie es weiter ging? Nun, ich sollte diese Frau beerben. Und sie war sehr unzufrieden mit dem Bestatter, der sie als hysterisch abtun wollte. Dennoch hat sie dort ihre Sterbeverordnung hinterlassen. Eine, die es in sich hatte: zuerst war eine gute Beerdigung vereinbart bei jenem Bestatter. Und von dem Rest sollte auch ich bedacht werden. Dafür brauchte es meine Zustimmung - immerhin.

3. Als ich sie dann abermals besuchte, nahm ich Rocco mit. Und er konnte, was mir anfangs schwer fiel: unmittelbar da sein und trösten, indem er seine Bedürfnisse einforderte. Streicheln. Berührung. Ansehen. Erwartung. Ein Hund löst mehr, als es die beste Trauerbegleiterin tun kann. Und auf einmal glätteten sich die Falten dieser Frau und Mutter und sie wurde jung und blühend. Lachte und spielte mit ihm, als wäre die Trauer nie gewesen. Ganz selbstvergesen und ganz bei sich.

4. Die Sterbeverfügung wurde dann doch noch geändert. Nun sollte die Tierhilfe Duisburg großzügig bedacht werden. Ich war einverstanden. Rocco sei Dank.