Freitag, Oktober 27, 2006

Du sollst Dir ein Bild machen

Kirchliche Beschlüsse haben eine eigene Diktion. Eine ganz besondere Sprache, kühl, inhaltsleer und doch treffend. Da tut es gut, sie lesen zu lernen und zugleich gegen das Licht zu halten, um das Wasserzeichen des Mißtrauen zu entdecken. Ein tiefes Mißtrauen gegenüber dem, was fremd und anders ist. Das sich nicht einpasst wie erwartet. Und vor allem auch ein Mißtrauen gegenüber sich selbst und der eigenen Verpflichtung als Gemeinde: dass man wirklich könnte, wozu man berufen ist. Dass man hält, was man verspricht. Dass anderes möglich wird.

Erst spät konnte ich auch den Brief des Presbyteriums zu Uedem lesen, den ich zuvor Petra stumm überreicht hatte, damit sie ihn las - stellvertretend für mich. Sie öffnete ihn draußen auf der Bank vor unserem Haus. Las und sagte nur: "Vergiss es". Ich nickte. "Hatte ich mir schon gedacht, als niemand anrief." Heute nun, über eine Woche danach , lese ich ihn zum ersten Mal selber. Nehme ihn in die Hand und zu mir. Es steht dort geschrieben:

"Sehr geehrte Frau Kammann,

das Presbyterium in Uedem hat sich in seiner Sitzung am 18. Oktober ausführlich über die Fortsetzung Ihres Predigtdienstes in Uedem beraten und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der diesbezüglich im Mai 2005 gefasste Beschluss aufgehoben wird.

Das Presbyterium hat sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht, zumal ihre Gottesdienste in der Gemeinde geschätzt wurden. Allerdings hat Ihr Verhalten einigen Mitgliedern des Presbyteriums und nicht zuletzt Ihre Aktion vor dem Landeskirchenamt am 29. Sept. das Presbyterium bewogen, die Zusammenarbeit einzustellen.

Ihrem Wunsch nach einer Verabschiedung in einem Gottesdienst hat das Presbyterium nicht entsprochen. In der nächsten Ausgabe des Gemeindebriefes wird jedoch ein Artikel erscheinen, der auf Ihre Predigttätigkeit in Uedem zurück blickt.

Mit freundlichem Gruß
Joachim Wolff, Pfr."

Jene doch altbekannte Diktion. Es wäre wirklich nicht schwer gewesen, anders zu beschließen. Es wäre nicht schwer gewesen, anders zu schreiben. Sie konnten es nicht. Unterschrieben hat diesen Brief ausgerechner jener Joachim Wolff, mit dem ich in Heidelberg gemeinsam studiert habe. Der sitzt nun seit Jahren im Pfarramt, dort zu Büderich und weiß nichts von mir. Verwundert bin ich nicht, dass er unterschreiben konnte, ohne ein Wort mit mir zu wechseln. Er ist nun bestallt zum Verwalter der Gemeinde - bis ein neuer Pfarrer kommt. Aber - so ist es nun mal.

Merkwürdig bleibt schon, dass es immer mein "Fehlverhalten" ist, das erinnert, erwähnt und festgehalten wird in solchen Beschlüssen. Die andere Seite der Geschichte klappt komplett weg. Als ob ich nicht so elend lange Wege gegangen wäre, sondern einfach nur eine Fehlfunktion aufweise, die vor weiterer Verwendung zurück schrecken lässt. Ein Brain Bug: "Attention! This woman has permanent fatals errors." Blue Screen und "Please press Control and Escape!".

Also scheute man sich auch hier nicht, Ursache mit Wirkung zu verwechseln. Meine Talarniederlegung begriff man bei weiten nicht als meine Antwort auf den Versuch der Landeskirche, mir die Ordinationsreche zu entsagen - ohne Rechtsgrundlage. Meine Talarniederlegung war ein Angriff auf die Gemeinde. Sonst hätten sie es nicht erwähnen mussen.

Aber wie sollte man auch begreifen, wenn man nicht mal den Mut fand, mit mir zu reden? So vollzog man unhinterfragt genau das, was das Landeskirchenamt brauchte. Verschaffte jenen die Rechtsgrundlage, die sie zuvor entbehrten. Machte aus Unrecht Recht.

Das alles erinnert mich sehr an meine sog. "Abberufung" aus Chorweiler im Jahre 1996. Sie folgt sprachlich einem ähnlichen Muster. Dort schrieb der damalige Stadtsuperintendent Manfred Kock, der spätere Präses der EKD, über mich:

"Kompliziert ist der Fall deshalb, weil es kaum greifbare Fehlverhaltensweisen gibt, die Frau Kammann anzulasten sind. Es sind vielmehr atmosphärische Probleme, Irritationen, die ihr Auftreten in der Gemeinde auslöst. Aus der Gemeinde wird berichtet, sie habe wenig Gespür für eine Angemessenheit des Umgang mit anderen Mitarbeiterinnen. Diese reagierten teilweise verschreckt und verstört, wenn Frau Kammann mit Kußhänden begrüßt oder verabschiedet. Zudem, so schreibt die Gemeinde, gäbe es eine äußerst beklemmende Atmosphäre, weil Frau Kammann ihre persönliche Problematik auf andere Mitarbeiter ablädt. Daher hat das Presbyterium diese Situation für nicht länger tragbar erklärt."

Sie sehen: der Fehler liegt stets bei mir. Auch wenn er sich nicht immer verifizieren lässt, macht man sich ein passendes Bild. Das Urteil über solche hahnebüchenden Argumente kann ich getrost meinen Lesern überlassen.

Persönlich wurde ich in keiner der beiden Sitzungen angehört. Man machte, was in die eigene Welt sich einpasste. Das Mindeste in einem demokratischen Rechststaat wäre doch, wenigstens dazu angehört zu werden. So dachte ich. Das gönnt man selbst jedem Angeklagten im Prozess. Bei der Kirche und ihren Beschlüssen wie Urteilen sieht es da anders aus. Man soll sich ein Bild machen, damit die klerikale Welt unberührt bleibt.

Beide Stellungnahmen künden auch davon, dass ich predigen könne. Und es hinfort nicht mehr tun darf. Der Widerspruch ist als Luftmasche eingewebt. Bei Kock klingt es so:

"Persönlich habe ich den Eindruck, dass Frau Kammann auf der einen Seite hochbegabt ist. Sie hat, so habe ich mich einmal überzeugen können, eine ausgesprochen gute sprachliche Begabung und verfügt über die Fähigkeit, konkret und schlüssig zu sprechen."

Dass es auch anders geht, zeigt vielleicht zum Abschluss die Stellungnahme des Wachtendonker Bürgervereins, für den ich vor zwei Jahren als Bürgermeister Kandidatin in Wachtendonk antrat und am "schwarzen" Niederrhein immerhin 44,3 % der Stimmen bei der Bürgermeister-Stichwahl erhielt.

"Der WBV Vorstand ist von Karin Kammann vorab über alle sie persönlich betreffende Umstände, die zur Angreifbarkeit Ihre Person führen könnten, hinlänglich unterrichtet worden. Nach gemeinsamer Aussprache im Vorstand hat dieser sich voll und ganz hinter die Kandidatur von Karin Kammann gestellt und unterstützt diese auch weiter. Eine Diskussion ihrer Vergangenheit in der Öffentlichkeit halten wir weder für notwendig noch für angebracht.

Wir sind weiter der Überzeugung, dass bürgerliche Rechte und Wählbarkeit nicht daran geknüpft sind, durch welche persönlichen Schwierigkeiten und Entwicklung ein Mensch gegangen ist. Gerade das Meistern dieser betrachten wir als persönliche Reife, als menschliche Kompetenz und innere Wahrheit."

So etwas von der Kirche zu erwarten, wäre Illusion. Oder glauben Sie noch an die Auferstehung? Und wenn ja, warum?





Brigitte schreibt

Brigitte schickte mir die Tage einen Brief.

Sie, die Theologin und weise Frau. Die Pfarrerin, die ihre eigenen Kämpfe mit der Kirche austragen musste und daher weiss, wie es sich anfühlt, wenn man weite Wege gehen muss. Brigitte war in meinem Leben da, eigentlich immer. Eine Art Ersatzmutter und Begleiterin. Eine Gefährtin auf dem Weg ins Eigene.

***
Sie war es,
die mich besuchte damals in Wuppertal, kurz nach meiner Operation. Das war die dunkle Zeit, als ich während meiner Operation umziehen musste, weil die Versprechen des Superintendenten zu Düren sich als Luft und Seifenblasen entpuppten. "Kommen Sie nach Düren. Grünes Licht" waren die Durchsagen. Doch niemand legte den Gang ein. Es blieb beliebig. Da musste ich dann umziehen, weil ich versprach, nach dem Eingriff auszuziehen. Meiner Ehepartnerin war das damals nicht zumutbar. Schon über ein Jahr hatte sie diese Situation ausgehalten, bei laufendem Scheidungsverfahren mich versorgt, weil die Kirche schwieg und von grünen Ampeln redete. Ein Jahr dauertees, bis es überhaupt zu einer Reaktion der Kirche kam.

Kurz nach meiner Operation besuchte mich also Brigitte und sie blieb und wir erzählten ... lange. Es war sichtbar und spürbar, dass sie verstand, dass sie sah, was andere damals nicht sahen. Ein verletzlicher Mensch, doppeltbelichtet, erschöpft und froh. Es muss im Sommer 1988 gewesen sein, in einer keinen anderthalb Zimmer-Wohnung in Barmen. Die Toilette war noch auf halber Treppe, eine dicke griechische Frau wohnte über mir. Die Tapeten an den Wänden waren frisch geklebt von Freunden, die diesen Umzug bewerkstelligten, während ich im Krankenhaus die besten Grüsse des Superintendenten zu Düren zu lesen bekam.

***
Sie war es,
die ich später begleiten konnte. Ein Glück war es doch, dieses Sondervikariat in der Ev. Akademie zu Mülheim. Dort war sie damals Studienleiterin und ich freute mich, ab und an mit ihr zusammen arbeiten zu können. Für mich, die Neugeborene und Spätberufene gab es dann Frauenwerkstätten, erfahrungsbezogenens Wissen, weibliche Weisheit und die Möglichkeit, meine weibliche Identität nicht unreflektiert anzueignen. Beschenkt wie ein staunendes Kind.

Es war eine gerüttelt gute Zeit, getrübt auch von ihrem Abgang und den vielen Anfeindungen, die sie mit ihrer eigenwilligen Arbeit gewahr werden musste, weil sie die weibliche Erinnerungsgeschichte nicht vergaß. Die Tagung zur weiblichen Erinnerung "Frauen, Ahninnen und wir" ließ das Landeskirchenamt die Bekenntnisfrage stellen, da die Herren Oberkirchenräte die männliche Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist in Gefahr sah. Brigitte ging dann aus der Akademie, nur kurz bevor diese sich selber auflöste. Ein Weg in die Fremde, ins Eigene zurück.

***
Sie war es,
die auch bei meiner Ordination dabei war. Wie eine gute Assitentin und Geburtshelferin. Als meine Initiation in dieser Kirche gelang und ich "da" war und nicht länger nur "da-vor": als Frau und Pastorin in dieser Kirche. An jenem Tag, dem 12. Spetember 1993, war die Petrikirche in Mülheim rappelvoll und selbst meine Eltern, die lange mit mir und meinem Weg gerungen hatten, kamen um ihr Kind zu sehen. Dort oben im Talar. Angekommen, wie es schien. Es war wie die große Versöhnung mit meinem Lebensweg, das stille Einverständnis, es doch noch geschafft zu haben. Die geglückte Wiederholung nach vorne, von der Kierkegaard zu schreiben wusste. Ein Wiedersehen nach langer Zeit.

Unversehrt und doch gezeichnet. Seht her, da bin ich. Ein Mensch, eine Frau mitten unter Euch. Lebendig und schön. Brigitte sah das und es war wunderschön zu erleben, wie dieser Gottesdienst langsam in die Hände der Frauen überging, wie Freundinnen mir vor der Predigt Rosen auf die Kanzel legten, wie das Fest des Lebens und der Liebe beginnen konnte - mit der Predigt über die Heilung eines Aussätzigen. Dem Text für diesen Sonntag, der Schulterschluss mit meinem Lebensweg.

***
Sie war es,
die ich später besuchte, als sie mit ihrer Freundin Barbara an den Niederrhein zog, dort ein Tagungszentrum für Frauen eröffnete - der Berkhövel bei Uedem - und sich mit den Bäuerinnen der Umgebung anfreundete. Ein ländliches Leben und der Wunsch, Frauensolidarität auch leben zu können, handgreiflich und sichbar. Ein Ort nicht nur für Frauen.

Den Weg zum Schweinestall habe ich damals mit gelegt, graue Steine gehämmert und mich gefreut, abends am warmen Kamin zu liegen. Es war wie ein Traum, der Wirklichkeit wurde, bis der zu frühe Tod von Barbara auch diese Heimat beendete. Schleichend und unmerklich. Ausgerechnet Barbara, die Jüngere, ging zu früh.

***
Sie war es auch,
die später wieder als einzige der Theologen in meine Wohnung kam. Noch einmal den Weg zu mir fand, damals als ich in Chorweiler wie ein Käfer auf dem Rücken lag. Als mit einem Schlag meine mühsam angeeignete und zusammen geklaubte weibliche Idenität zersplitterte wie unter einem Axthieb. Da war mir nur noch Schmerz fühlbar. Die Welt versank in einem lauten Schrei. Und Brigitte war da, legte meinen Kopf in ihren Schoß und ließ mich endlich los, frei in den Schmerz einer Trennung, die Abgründe offenbarte. So konnte ich mich ablegen, so war ich mutterseelen allein und doch mit aller Mutterseele versehen. Weil ich endlich verstand, weil ich endlich begriff, dass es nicht an mir lag, dass bei dieser Trennung andere Mächte im Spiel waren, viel stärker als ich.

Da war ein bigott frömmelnder. protestantischer Vater, der seine siebenjährige Tochter zugleich ins Bett lockte. Eine brüchig-bürgerliche Fassade, die da zusammenbrach und Abgründe offenbarte. Dazwischen ein Kind und heranwachsendes Mädchen, bei dem alle Muster verrutschten. Später eine Frau, die zwischen Macht und Liebe nicht mehr unterscheiden konnte. Die begehren musste, um "da" zu sein. Die darüber alle Sprache verlor und doch redetet wie keine sonst: Schau her, ich ziehe mich aus vor Dir.

Unheilbar war ihr dieses Loch in die Seele gebrannt. Ein Abgrund. Und wer daran rührte verging. Erst langsam begriff ich die Unmöglichkeit dieser Beziehung. Die Unmöglichkeit, sie dort heraus zu lieben ins Leben. Und so wurde sie der vergiftete Apfel für mich. So wurde es für mich Zeit, das Böse hinaus zu tun, bevor ich selber daran erstickte. Und wenn es die eigene Existenz kostete.

Tatsächlich war der Preis hoch: es kostete mich, was ich bisher als wertvoll für meine Frauenexistenz erachtet hatte. Dort geschah meine zweite Initiation. Mein Schritt ins Leben zurück. Der dritte notwendige Schritt. Um vom Überleben ins Leben zu kommen, um überhaupt wieder leben zu können.

"I am a MaleToFemaleToMe Person". Ich bin eine Mann-Zu-Frau-Zu-Mir Person. Es war der geglückte Dreischritt. Die Aufhebung des Widerspruches - jenseits der Geschlechtergrenzen.Zugleich war es auch ein Übergang in ein Leben zwischen den Geschlechtern, vom "Da-sein ins "Dazwischen-Sein" (Inter-esse), zugleich die Entleerung der Frage, was mich als Frau denn ausmache. Es war auch das Ende der Aneignung anderer und endlich der Weg ins Eigene, wenn auch unter Schmerzen geboren.

Dass nur darüber die Kirche verlustig ging, war wahrscheinlich nebensächlich. Allein ich blieb am Leben. Und das war nicht wenig in diesen Tagen.

***
Brigitte war da,
war da als die Zeugin meines Weges über Jahre hinweg. Weil es Zeugen udn Begleiter braucht, um glaubwürdig zu sein. Während meine Studienkollegen in Pfarrstellen berufen wurden, Orte wechselten, Karriere machten und Familien gründeten, sich im Eigenen verliefen, blieb Brigitte da auf ihre Weise. Blieb sie Zeugin und kannte - wenn doch nicht alle - so doch viele meiner Wege. Jemand der sehen konnte und verstand. Und so wunderte es mich nicht, dass Brigitte nun wieder schrieb, jetzt wo ich meinen Talar nieder legte. Dass sie die Geschichte schloss wie ein Kreis.


"Liebe Karin,

Freundinnen aus dem Ruhrgebiet schickten mir Artikel über deine Talarniederlegung. Ich möchte Dir sagen, dass mich das sehr berührt hat, ja geschmerzt hat. Einmal, dass diese Kirche dir deine gesuchte neue Identität verweigert hat. Ich erinnere mich noch an deine Ordination, wie wichtig sie dir war, so etwas wie ein Zuspruch zur Daseinsberechtigung. Das hat die Kirchenleitung nie kapiert, dass es in deiner Geschichte um etwas anderes als Recht und Paragraphen geht. Zum anderen hat mich geschmerzt, dass es wieder so eine Aktion sein musste, in der Du Dich preisgibst und verletzt.
...
Wie geht es in Deinem Leben nun weiter? Wie hast Du diese ganze Erfahrung innerlich verarbeitet? Kannst Du mit Deinen Beratungen genug Geld verdienen? Wie geht es mit Eurer Beziehung? Habt ihr wie geplant geheiratet? Und schließlich, was macht der fidele, kleine Hund?
...
Nun grüsse ich Dich ganz herzlich mit vielen, guten Wünschen für Deinen weiteren Weg.

Brigitte"

So etwas berührt und bringt verlorene Nähe wie pulsierendes Blut zurück. Es treibt zu Tränen. So etwas ist Sprache, die ich verstehen kann. Herzlich, mit Resonanz. Ein Mensch, der begleiten kann, der fragen und verstehen will, bevor er urteilt.


Donnerstag, Oktober 26, 2006

Wie geht es jetzt weiter?

So wurde ich mehrfach gefragt. So frage ich auch mich.


Ehrlicherweise muss ich dazu sagen: Ich weiss es einfach nicht. Ich werde mit 47 Jahren nicht mehr viel Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben und daher muss ich mich auf mein Eigenes besinnen. Es könnte Schreiben sein – die Phantasie, mit der ich auch nach Wachtendonk gezogen bin. Die Phantasie, die mir lebbar erscheint. Gerade jetzt.

Vor Jahren hatte ich bei meiner Heilpraktikerin in Düsseldorf eine Hypnose Sitzung. Und da sah ich mich jung und froh durch ein tibetisches Hochtal gehen, es gab Gras und Blumen und in der Mitte einen Bach.

Dem folgte ich, bis er in einer Höhle versickerte. In diese konnte ich – durch einen Seitenspalt – herein klettern und ich fand eine große Truhe. So wie man sie klassisch in Piratenfilmen sieht, mit schweren Eisenbeschlägen versehen. Es war mir möglich, sie zu öffnen und ich fand dort mehrere Pergamentrollen, die aufrecht in der Truhe standen. Es müssen weit über fünfzig gewesen sein und ich nahm eine davon behutsam heraus und fand das Leben eines Menschen beschrieben. Ich blieb lange Zeit in dieser Höhle und war interessiert, all diese vergessenen Geschichten lesen zu dürfen. Die Zeit verging und ich hatte gerade mal zwei, drei Rollen angelesen. Als es dunkel wurde, beschloss ich schweren Herzens die Höhle zu verlassen. Schloss die Truhe und legte einen Stein darauf – meine Erinnerung, wieder zu kommen und weiter zu lesen und kletterte aus der Höhle.

Diese Traum, diese Phantasie, dieser Hypnose ist schon einige Jahre alt und sie wächst und begleitet mich. Und sie klingt in mir wie eine Einladung, Geschichten zu schreiben. Nicht unbedingt die meine, sondern mit meiner Wahrnehmung zu anderen Menschen zu gehen. Achtsam zu werden, einfühlsam und meinen besonderen Blick zu üben. Diese Rollen hätte ich nicht mitnehmen können. Diese Rollen eigneten sich nicht zur Beute und zur Vermarktung, das war mir auf Anhieb da. Sie waren eigentlich nur da, um dort gelesen zu werden. Um ihren eigenen Ort zu finden. Ihre Lesestube von Natur umgeben. Und es rührt mich heute noch, dass ich diesen Stein auf die Truhe gelegt habe – wie ein Versprechen wieder zu kommen. Wie ein Gedenken auf jüdischen Gräbern.

Das beschäftigt mich heute noch und es kommt zurück und ich schreiben hier und da kleine Mosaike von Menschen – so wie ich es ja auch in den Beerdigungsansprachen gelernt habe. Menschen, die man nicht vergessen darf oder sollte. Die wertvoll genug sind, ihren eigenen Raum zu finden. Das ist, was ich mir für mein weiteres Leben vorstellen kann. Das ist, was ich mir wünsche, dass ich schreibe und da bin. Seit Jahren schon habe ich an der Schreibmaschine gesessen und geübt. Briefe dieser Länge fallen mir nicht mehr schwer und früh Morgens ist eine sehr schöne Zeit zu schreiben. Wenn der Hund sich zu meinen Füßen legt, schläft und genügsam wird. Wenn die Sonne über die Dächer blitzt und ich den frischen Wind ins Zimmer bekomme.

Eigentlich habe ich schon immer Schreiben wollen. Meine kleine oder großen Fluchten kündeten davon. Ausblicke in Meersburg bei Beatrice, die mich damals aufnahm und mich in ihr Gästezimmer setzte. Anette von Droste-Hülshoff benachbart. Eine wunderschöner Blick nach Meersburg hinein. Das Locken des Sees. Oder bei meinem Freund Mark in der Schweiz, der da ein ganzes Haus für sich hatte, das er sorgsam von seinen Scheidungstrümmern geleert hat: ein weiter Blick über die Streuobstwiesen hinüber zum Säntis. Sonne, die mich verwöhnt und die Phantasie, dort einfach bleiben zu können und zu schreiben. Kochen, Wandern und Schreiben. Abends gemeinsam am Kamin sitzen. Mark, der als Religionslehrer arbeitet, erzählt mir von seinen Projekten, beiden – denen im Unterricht und seinen Exkursionen ins Fremde, in den Himalaya und die urbanen Wüsten. Beide waren wir so seltsam unbehaust in der Welt. Der Backofen öffnet sich für einen Auflauf und Saft steht bereit.

Oder auch mein kleines Zimmer in Überlingen. Über den Höhen des Sees und ganz in Holz vertäfelt. Eine Alleinerziehende suchte dort eine Mitbewohnerin und ich habe mir dieses verwunschene Försterhaus angesehen. Unglaublich, wie es gebaut wurde. Keine Tapete, nicht eine, sondern nur dieses wunderbar atmende Holz herum. Balken, die durch die obere Etage sich ziehen. Tragfähig, solide über Jahrhunderte schon. Jemand wusste sehr genau von dem Ort, wo es stand. Es bot eine fantastische Aussicht auf den See, über die Birnau hinüber auf die Schweizer Seite, ein Seelenkummerschlummerblick, der versöhnte und aufforderte, bei sich selber anzukommen.

Schreiben, das war schon immer meine Versuchung und als ich mich los lies und aufmachte damals, zum Ostern 1999 und an den Bodensee zog, klingte alles in mir. Da nahm ich all mein Hab und Gut und pferchte es zusammen auf einen 7.5 Tonner. Freunde schleppen es wie Gerümpel aus der Eifelstr. 22 zu Köln. Auf der Mitfahrzentrale nahm ich noch zwei Menschen mit in den Süden und so fuhren wir von Köln los, weit weg von allen kirchlichen Problemen. Los, einfach nur los in einen sonnigen Ostertag über die schwäbische Alb. Und ich kam an in Meersburg und Konstanz, fremd und doch zu Hause, meiner inneren Stimme ein Stück näher gekommen. Es war ein gutes Jahr dort in Konstanz. In Sicherheit vor der Kirche, dem engen Rheinland mit seinem Landeskirchenamt und eigenen Befindlichkeiten.

Zur Ordination hatte der Superintendent mir ein Buch geschenkt. Ich weiss nicht, ob ich davon erzählt hatte. Ich durfte mir, wohl auch aus Ermangelung eigener Kenntnisse, was wünschen. Und ich wünschte mir von Magriet de Moor dieses schöne Buch: Erst grau dann weiß dann blau. Die Geschichte eines Verschwindens wurde mir zur Ordination zugeeignet. Sicherlich wusste der Superintenden Leßmann nicht, was er mir da schenkte. Es geht um eine Frau, die spurlos verschwindet aus ihrer Ehe, ihren Beziehungen, ihrem Alltag. Und spurlos heisst tatsächlich, ohne eine Spur zu hinterlassen. Einfach weg. Und Robert, ihr Mann steht da. Nach zwei Jahren kehrt sie zurück. Wortlos ohne auch nur eine Frage zu beantworten, nimmt sie ihr vorhergehendes Leben wieder auf. Das war mein Ordinationsgeschenk.

So ähnlich fühlte ich mich damals auch, als ich an den See ging und niemandem Bescheid gab in der Kirche und Kirchenleitung. Als ich verschwand und mein neues Leben ausprobieren wollte. Ich traf auch auf Rose Ausländer, die nach Jahren zum ersten mal, von Zürich kommend, in Konstanz wieder den Fuß auf deutschen Boden setze. Die 1961 von dort dann übersetzte nach Meersburg, um den Droste-Hülshoff Preis zu erhalten. Und dann – völlig unüblich und kaum bekannt, ein Jahr in Konstanz blieb. Sich niederließ und schrieb. Auch sei schien wie verzaubert von dieser Idylle. Auch sie schien wie verhaftet und versöhnt von diesem kleinen Stück Niemandsland zwischen den Grenzen, wo keine Bombe jemals fiel und alles unberührt und heil erschien: eine Stadt, an dem der Krieg still vorbei gezogen ist. Mir sagte man, dass es eine List gewesen war, die Konstanz rettete. Dass man die Lichter brennen ließ, damit keiner der Bomber die Grenze zu Kreuzlingen erkennen konnte. Und so lief jede Bombe dort Gefahr, Schweizer Gebiet zu treffen.

Aber egal, Rose blieb dort und schrieb. Es war ihre erste Versöhnung mit einem Nachkriegsdeutschland. Die lyrische Berührung ihrer Seele, das Erkennen zaghafter Zugehörigkeiten, und sei es nur die Sprache, in der sie schrieb, dachte und webte.

So verschwand also auch ich nach Konstanz und kam zugleich an. Kam an mit meiner Phantasie zu schreiben, der Phantasie auch eine neues Leben auszuprobieren, einfach weg zu gehen, ohne jemanden Bescheid zu sagen. Ich musste raus, wenn immer ich nicht ersticken wollte. Und kam an und fand damals doch nicht den Mut, Ernst zu machen. Doch davon ein anderes Mal. Dann geht es um eine doppelte Entdeckung. Die Zürichs mit seiner handgreiflichen Exilantengeschichte und die von New York, den SubUrbs der Transgender mit Leslie Feinberg, einer kleinen Rabbinerin auf der WestSide, die mich zu Simchat HaThora einlud und auch von Alex, der 1999 schon begann, europäische Unternehmen wie Briefmarken zu sammeln.

Mittwoch, Oktober 25, 2006

Das Jona Syndrom

Hier nun ein weiteres Kapitel meiner geliehenen Identitätsmäntel. Oder vielleicht besser in diesem Fall: der Identitäts versichernden Steine, die man sich in den Mantel steckt, um sein zu können. Um sich versichern zu können. Geschichten, die einem Leben Basis bieten sollen. Denn wie bringen wir in Erfahrung, was wir sind und welche Muster wir leben? Welchen Erwartungen wir folgen. Es gibt so einen inneren Spiegel, der uns in die Lage versetzt, Ziele anzustreben, Leben möglich zu machen. Dazu müssen wir ein Muster finden, ein Skript, das für unser Leben hier und jetzt stimmig zu sein scheint. Ein Stein in die Tasche nehmen, der uns erinnern kann.


Die letzten zwei Jahre war die Geschichte des Jona so ein Stein für mich. Nach langer Reise ankommen und dennoch nicht zufrieden sein können. Jona - das wurde mir zur notwendigen Chiffre, um überhaupt wieder in der Kirche, einer Gemeinde predigen zu können. Rückwege zu gehen, ohne sich selber zu verlieren.

Ich selber hätte es ja kaum für möglich gehalten, dass es da noch einmal einen letzten, wenn auch vergeblichen Anlauf geben könnte, zurück in diese Kirche, zurück in meinen gelernten Beruf. Pastorin zu sein - das war mir mehr als einen Beruf zu haben. Pastorin zu sein, das war meine Ordination vor allen Menschen. Seht her, eine Frau. Seht her, ein Mensch mitten unter Euch. Seht her, da bin ich. Die Ordination, für viele nur ein Durchgangsstation auf dem automatischen Weg in das Pfarrerdasein sah bei mir etwas anders aus.



Sieben Jahre hat es gedauert, bis ich dort sein konnte. Sieben lange Jahre voll Angst und Zittern. Sieben Jahre lang den Weg von Mann zu Frau, dieser Wechsel - mühsam und unter Schmerzen. Aber immer mit der Erwartung, dort auf der Kanzel ankommen zu können. Da zu sein. Von 1986 bis 1993 nahm ich diese Strecke, nicht einfach aber ich schaffte es. Ich war ordinierte Pastorin. Ich war angekommen.

Nach 1993 zersplitterte alles unter den Händen. Und weitere sieben Jahre später, im April 2000 wurde ich dann aus dem kirchlichen Dienst entlassen. Keine Stelle, keine Absicherung. Ein Sonderdienst, unter dem ich aus merkwürdigsten Umständen entlassen wurde. Wachsende Entfremdungen. Niemand hatte mich gesehen, alle erwarteten eine funktionierende Frau. Begegneten mir mit ihren eigenen Erwartungen.

Es war vielleicht gar nicht mal die Tatsache, dass ich gewechselt war, sondern die Enttäuschung, dass ich nicht die geworden sind, die sich die Männer im Landeskirchenamt zusammen phantasiert haben. Eine, die dankbar ist für alles. Die einen Knicks macht und sich verdankt dem Großmut derer da oben. Immerhin ist es in allen kirchlichen Stellungnahmen auffällig, dass dieser Tenor herrscht. Dass ich ein undankbares Mädchen bin. Dass sie doch viel und noch viel mehr für mich getan hätten. Ich denke wirklich, bis heute leben sie in dieser Projektion, für mich nur gute Onkel gewesen zu sein, die es gut mit mir meinten.

Ich dagegen entwickelte mich nicht konform. Bestätigte nicht ihre Erwartungen. War nicht dankbar, angepasst und artig. Die Verwechslung begann da, wo man meinte, ihre kirchliche Erlaubnis würde mich am Leben halten. Ihre Toleranz wäre es, die mich ermöglichte - als Frau. Für sie war das dann ein treffliches „Experiment Mensch“ und es gab sicherlich nicht wenige, die sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen wollten.

Sicher und bekannt ist mir, dass es gerade bei den angeblich toleranten Männern der Fall war. Da gab es einen Pfarrer, der sich damals sehr für Homosexualität einsetzte, der sich immer wieder von mir fasziniert zeigte, der mich bewunderte ob meines un-erhörten Mutes und auch in den Tagungen der Ev. Akademie stets von mir zu künden wusste. Ungefragt und ohne Rücksicht. Seht her, sagte er und scheute sich nicht, mit dem Finger gar auf mich zu zeigen. Allein, kein einziges Mal hatte er mit mir geredet. Und als es dann geschah, spät nach dieser Zeit, da merkte ich, dass er all seine runter geschluckte eigene Sexualität, all sein verklemmtes Schwulsein selber mit hinein gepackt hatte in diese Bewunderung. Sie tut, was ich mich nicht traue. Ein Engagierter, der sich umzingelt hatte und im Beamtenschrank saß.

Ich glaube wirklich, dass mein Scheitern in der Kirche genau damit zu tun hatte: Dass ich eine lebendige Projektionswand wurde für die eigene Gutmütigkeit, für die Wohltätigkeit der Kirche mir gegenüber, in der sie sich selber gefallen konnte. Also eine durch und durch narzistische Angelegenheit. Daher wunderte es mich nun nicht mehr, dass niemand in dieser Zeit mit mir sprach. Aus dieser Falle konnte ich nicht entkommen. Es gab kein Entrinnen. Da – und nur da – meinten Sie es ernst.

Bleiben hätte ich nur können als Beweis ihrer eigenen Wohltat. Dabei verwechselten sie oft Homosexualität mit meiner Reise. Verstanden nicht, dass es Unterschiede gab. Verstanden nicht, dass es eine Reise ist. Erwarteten, dass man heimlich einen Durchbruch durch die Toiletten machte, die Seiten wechselte und strahlend wieder auf der anderen Seite heraus kam. Allein, so war es nicht.

Unglaublich bliebt mir daher, dass sie wohl bis heute nicht begriffen hatten, dass es ein Gesetz in Deutschland gibt, das diese Dinge regeln und begleiten kann. Dass es nicht ihre Barmherzigkeit ist, die mich ins Leben bringt. Sondern meine Verzweiflung. Und die Wahrnehmung meiner Rechte auf Grundlage eines Gesetzes. Ich glaube, das haben sie bis heute nicht verstanden. Wie kann sie sich so was heraus nehmen?

Es wunderte daher nicht, dass allein die Umschreibung meiner kirchlichen Zeugnisse mehr als ein halbes Jahr dauerte. Da bekommt man einen neuen Personalausweis, eine neue Geburtsurkunde und die Kirche weigert sich, das anzuerkennen. Ist völlig blind auf diesem Auge. Mein Abiturszeugnis gab es innerhalb von zwei Tagen zurück: Neu und korrekt ausgefüllt auf meinen Namen: Karin Kammann. Die Kirche brauchte tatsächlich sechs Monate und vier Tage dafür. Unglaubliche.

So ging es dann nach der Ordination scheibchenweise zurück. Man hatte sie mir erlaubt, so dachten sie. Und der Abschied kam genau da, wo ich Menschen gebraucht hätte. Wo ich hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken lag. Da hat mich Kirche fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Wo unter Beweis stand, was sie war für mich. Wo sie zeigen konnte, was sie verstanden hatte von meinem Weg. Da wurde man vielleicht gewahr, dass das eben kein „Experiment“, sondern ein Mensch ist. Und sich auf den Menschen einlassen - das war gänzlich unmöglich.

So verbrachte ich dann die Jahre 2000 - 2005 zumeist damit, einen Job zu suchen. Erfahrungen zu sammeln. Innerlich Abschied zu nehmen. Weit weg musste ich und das Muster der damaligen Zeit fand sich wieder in den Vertriebenen, den in Zürich Exilierten. Diese Stadt zog mich magisch an. Und als ich zum ersten mal im offenen Cabrio die Limmat entlang fuhr, kamen mir die Tränen. Einfach so. Als wäre dort ein tiefes Aufamten. Ein Ankommen und eine Flucht, über hunderte von Kilometern hinweg.

Das Rheinland mit den guten Onkeln war weg. Weit hinter mir. Und mir war bewusst, dass ich dort nicht werde leben können. Dort war verbrannte Erde. Ungeklärte Situationen. Die Projektion dieser klerikalen Männergesellschaft. Dorthin konnte und wollte ich auf keinen Fall zurück. Damals.

Aber - ich tat es dennoch. Unerkannt und klein. Zurück in diese Gemeinde, die mich ordiniert hatte. Zurück in diese wunderschöne Petrikirche mit ihren terracotta warmen Boden, den blauen Engelfenstern. Zurück in die Gemeinde in der Mülheimer Altstadt, so als wollte ich endgültig noch mal Kontakt aufnehmen mit dem Verlorenen. Eine Überlegung damals war sicherlich diese: Hier können Sie Dir die Kanzel nicht verweigern. Hier haben sie mich ordiniert, wie sollte das anders gehen.

Und so kam ich dann an in Mülheim, in einer kleinen Wohnung unter dem Dach. Lebte die Vertreibung und das Wiedersehen. Vertraute Wege an der Ruhr. Joggingstrecken durch die Saarner Aue. Startende Schwäne vor dem Ruhrwehr. Und vagabundierte durch die Berufe. Innerhalb von drei Jahren war ich Key Account Managerin Mobile Internet im Düsseldorfer Medienhafen, Kontakterin einer Werbeagentur, Trainerin einer Sales Task Force, Marketing Unterstützung einer IT Firma, Energie Optimiererin für eine Firma aus Lugano, Außendienstlerin für EC Cash Terminals im Direktvertrieb, DKV Bezirksrepräsentantin in Mülheim Ruhr und fuhr zwischendurch auf einem Kreuzfahrtschiff als Hausdame von Sri Lanka nach Mallorca. Ein Leben im Da-Zwischen.

Mein jüdischer Freund Shimon sagte einmal: "Karin, Dein Job ist es, Jobs zu bekommen." Ich wunderte mich nicht sehr, dass das auch ein Job sein könnte. Der innere Verschleiß jedoch wurde spürbar. Dennoch ging ich auch meiner Predigttätigkeit in Mülheim weiter nach, während die dort bestallten Pfarrer in ihre Sommerhäuser am Meer fuhren. Einmal Predigen weniger war ihnen nur willkommen.

Kurzum: Ich kam mir vor wie Jona, der auf allen möglichen Schiffen anheuerte, aber doch nicht bleiben konnte. Jona, der vor seinem Auftrag floh. Der nicht annehmen konnte, was von ihm verlangt wurde. Es ist keine angenehmen Erfahrung, immer wieder von Deck zu gehen. So, als sei mir keine andere berufliche Heimat beschieden, denn mein gelernter Beruf. Sicherlich habe ich gelernt, irgendwie zu überleben. Aber ich war immer noch Pastorin, wenngleich ohne Bezüge im Ehrenamt.

Verwunderlich war schon die gnädige Ignoranz der Mülheimer Kollegen. Alle drei Monate meldeten sie sich, um den Predigtplan fertig zu stellen und damit war es auch erledigt. Niemand kam mal bei mir vorbei. Ehrlich gesagt, das hätte ich auch nicht erwartet. Aber es wäre ein Zeichen gewesen.

Dann mit dem Unzug nach Wachtendonk und durch eine obskure, krude Eskalation kam ich wieder auf die Kanzel. Kirchengemeinde Uedem. Ehrenamtliches Predigen. Was man ja tun muss, um sich überhaupt den Beruf zu erhalten. Und dann saß ich da. Mit Tränen in den Augen bei der ersten Fahrt zum Gottesdienst. Ich, die ich innerlich doch auch Abschied nehmen musste, sollte wieder predigen? Wieder in Kontakt mit diesem Beruf gehen? Meinem verlorenen Beruf? Wie sollte das nach all den Erfahrungen gut gehen können?

Dennoch: ich tat es. Und wurde überrascht von einer Gemeinde, die offen war. Dies sich neugierig zeigte, interessiert. In einer gewissen Weise menschlich. Die erste, die eine Resonanz gab und mich einlud, da zu bleiben. Nicht mehr zu fliehen. Als der Pfarrer dann erkrankte, dachte ich: Also gut, versuche es ein aller letztes Mal. Geh zurück in deinen Beruf. Mach ein Ende mit den beruflichen Verlegenheiten und Ausflüchten. Versuche es ein letztes Mal.

Es war das, was ich heute das Jona-Syndrom nenne. Dass ich den Rückweg nahm in die Hoffnung. Die Hoffnung, dennoch da sein zu können - als Mensch in dieser Kirche. Als Pastorin für die Menschen. Und ich spürte, wie alles nachwuchs. Ja, da war nichts verloren gegangen. Es tat gut, die Beerdigungen zu machen. Den unmittelbaren Kontakt mit den Menschen wieder zu suchen. Einer sagte gar: "Nach ihren 15 Minuten Ansprache habe ich mehr gelernt von meiner Mutter als in den 25 Jahren zuvor." Es tat gut, den Konfirmanden Unterricht mit zu machen. Gut, sich zu verbinden und da zu sein. Es war wie ein langsames Erwachen, sicherlich skeptisch beobachtet. Blinzelnd noch

Sollte ich mich darauf einlassen? Nach all den Verletzungen in den letzten Jahren? Heute kann ich sagen, ich hätte es vielleicht besser nicht getan. Heute kann ich sagen, mein Jona hatte keinen Erfolg. Denn die biblische Geschichte geht ja anders weiter: Jona folgte seiner Berufung und ging nach Ninive, der großen Stadt und predigte Buße. Und die Menschen bekehrten sich zueinander. Nahmen einander an, was Jona so wütend machte, dass er sich ganz verbiestert zurück zog. Denn damit hatte er nicht gerechnet.

Kann sein, ich habe zuletzt zu viel versucht. Aber es muss auch ein Ende haben und finden. Das Zeichen des Jona - es ist die Signatur eines Scheiterns. Die erneute Feststellung, nur mich selber zu haben. Und kann sein, dass das Schreiben all dieser Erfahrungen für mich jetzt der Fischbauch ist, indem Jona getrost sein Lied sang. Ich bin mir sicher: die Angst wird wieder kommen. Aber nicht jetzt. Ich bin mir sicher: Für meine Wut wird vielleicht auch ein Kraut gewachsen sein, wie damals bei Jona, dem Gott zu guter Letzt einen Schattenbaum schenkte.

Zwischen Fischbauch und Schattenbaum möchte ich weiter schreiben. Vergessen all die vielen Kämpfe ums eigene Überleben. Die schlaflosen Nächte. Der stumme Zorn. Gestern schrieb mir Brigitte eine Karte. Sie, die mich damals vor 13 Jahren mit ordiniert hatte. Es kommt zusammen, was zu Ende geht. Ein alter Kreis schließt sich. Das Neue noch nicht in Sicht. Bleiben wir zuversichtlich. Auch wider dem Verbote.

Jona hat abgedankt. Es gibt keinen Weg nach Ninive. Dort, wo das Geld und die Macht ist, im Landeskirchenamt, wird es keinen Weg der Buße geben. Dort sitzen die, die nun das "Experiment Mensch" zu den Akten legen können. Und sinnierend sagen: "Schade, wir haben ihr doch alle Möglichkeiten gegeben." Und dann weiter machen wie bisher.


Dienstag, Oktober 24, 2006

Das Pfarrhaus - eine architektonische Depression

Man muss sich wundern, wie dominant Architektur sein kann. Manchmal hilft sie auch Pfarrwahlen zu entscheiden. In Uedem, dort wo ich einen Moment hoffte und überlegte, Pastorin zu sein oder zu werden, handelt es sich um ein solches Haus. Ein 1971 gebautes Pfarrhaus, mitten im Gemeindezentrum, natürlich nach Vorschrift mit den drei gebotenen Kinderzimmern, alle auf einer Reihe verteilt in der oberen Etage. Jedes der Zimmer hat die gleiche Quadratmeterzahl, nur um niemanden zu benachteiligen. Drei mal gleiche Kinder. Am Ende des langen Flures befindet sich dann eine beige gekachtelte Dusche.

Für eine neue Stellenbesetzung ist das schon mal eine Ansage. Drei Kinder muss man haben. Oder zeugen. Oder wenigstens zwei. Bei der lebenslänglichen Beamtenversorgung sollte das eigentlich keine Schwierigkeit sein. Gebärfreudige Grundversorgung inclusive.

Drei Kinder sind Standard für die Errichtung von Pfarrhäusern, das steht wirklich so in der Richtlinie für die Errichtung von Pfarrhäusern. Früher waren sogar vier Kinderzimmer, die die Gemeinde einem vermehrungsfähigen Pfarrerehepaar bereit stellen musste. Nun ist man herunter gekommen auf korrekte drei Kinderzimmer.


Damit sind wahrscheinlich schon mal weitere Entscheidungen gefallen: der Pfarrer oder die Pfarrerin ist heterosexuell und als Mann & Frau mit Zeugungswunsch oder schon gezeugtem Nachwuchs versehen. Bei Zeugungswunsch wird es dann schwierig: das Schlafzimmer im Pfarrhaus wurde vernachlässigt und liegt nun direkt über dem Flur und Eingangsbereich. Energetisch, so würde meine Freundin Gugu sagen, ein Unding. Feng Shui sieht hier die Einladung zum Scheitern jeglicher Beziehungen. Stellen Sie es sich vor: unten kommt der Penner zum Pfarrbesuch und genau darüber, gerade mal zwei Menter entfernt, ist das Intimste, was ein Haus zu bieten hat.

Dieses Schlafzimmer mit schrägen Wänden befindet sich über dem Eingangsflur, wo Hinz & Kunz zum Pfarrer kommen. Unglaublich und gut tat der Vorgänge daran, sein Büro extra neu anbauen zu lassen. Damit man unten nicht aufsaugt, was oben hindert. Denn das trägt man artig weiter bis in den Schlaf. Kein Wunder, wenn dort Ehen scheitern und versanden. So etwas ist Treibsand im Bett. Und nicht nur da.

Der bisherige Pfarrer, so wurde mir berichtet, konnte diese Konstellation auf Dauer nicht ausgehalten. Weder in der Beziehung noch sonst. Und der Anbau des Pfarrbüros war eigentlich Hilflosigkeit und die frühzeitige Dokumentation, dass was falsch ist in der Konstruktion. Nun hat der Vorgänger wohl weißlich die erste, beste Gelegenheit genutzt, um auszuziehen und sich mit seiner neuen Geliebten zu verdünnisieren. Das ist in gewisser Weise mehr als nachvollziehbar. Sie wird es ihm danken, wenn überhaupt.


Das Schlafzimmer selber hat keine Aussicht. Keine wirkliche. Wozu brauchte es das auch, wenn man dort schlafen und zeugen soll? Zwei kleine Fenster zur Lüftung und nach hinten und vorne ist ein kleines Fensterband angebracht. Schießscharte, falls sich jemand spät nachts verlaufen hat und beim Pfarrer schellt. Dann kann man auf Kipp stellen und Bescheid geben - und sich dem Schlaf oder Beischlaf wieder zu wenden. Praktisch, mag sich da der Architekt gedacht haben.

Bekleidete Wände gibt es dort nicht. Statt dessen weiß gekaltes Mauerwerk der 80er Jahre. Sichtbar und einfach. Das ist fast überall im Haus so. Keine Tapeten, die den Ton dämmen. Praktisch, sozusagen. Und vor allem sparsam. Wozu Tapeten, man weiß eh nicht, wie lange der Pfarrer bleibt. Und jedes Mal neu tapezieren? Bei den Kirchensteuern?

Vor Jahren habe ich mal in Konstanz einen Architekten als Chauffeuse durch Süddeutschland gefahren. Um zwischendurch Geld zu verdienen. Der hatte plötzliche Diabetes bekommen und der Arzt empfahl im, einen Fahrer für seinen Benz 600 zu nehmen. Aus Zufall wurde ich das, trotz der 170 anderen Bewerber, die so gerne 12Zylinder Mercedes fahren wollten. Nun gut, ich fuhr also morgens um sechs mit ihm mit der Fähre über den Bodensee - unvergeßlich schöne Sonnenaufgänge - und dann weiter über Ulm bis nach Ellwangen, wo er ein Krankenhaus umbaute. Dort kamen wir regelmäßig am Dom und Kloster vorbei und während ich aufpassen musste, nicht geblitzt zu werden, schwärmte mein Archtiekt beim Anblick des Klosters: "Frau Kammann, schauen Sie doch nur, schauen Sie nur. Diese Maße !! Wir haben einfach diese Maße nicht mehr." Und er meinte damit, die der Fenster und Türen und der Räume, die auf den Menschen passten. Heute muss der Mensch sich der Architektur anpassen - auch in einem Pfarrhaus.

Das habe ich nie vergessen und dieser Satz kam mir wieder in den Sinn, als wir vor über einem Monat mal durch dieses "Pfarrhaus" gingen. Die Phantasie der Bewohnbarkeit und Pfarrstelle im Kopf. Es war mir ja überhaupt peinlich, die Küsterin um eine Besichtigung zu bitten. Das kam mir viel zu anmaßend vor, solange die Situation um diese Pfarrstelle überhaupt nicht geklärt war. Mir war allein schon diese Besichtigung unangenehm, so als wollten wir in Besitz nehmen, was uns nicht zusteht. Ein gewisser Voyeurismus oder die tiefe, innere Gewißheit, hier nie ankommen zu können. Wir waren Gäste, darauf konnte ich mich verständigen.

Die Küche entpuppte sich als mittlelschwere Katastrophe. Klassisch in Kiefer gehalten. Was soll das? Ein rechteckiger Raum, der mit einer recht eckigen Küche ausgefüllt wurde. Alles an die Wand gedübelt, gerade akkurat. Die Frau, die dort arbeiteten sollte (ich nehme mal an, es ist vom Architekten so gedacht) schaut vor die Wand. Wohin auch sonst. Sie tastet sich von Herd/Kühlschrank weiter bis zur Spüle, die ebenfalls vor schmalen Fenstern angebracht ist. Nein, es gibt keine wirkliche Aussicht dort. Fenster wie Schießscharten, die man am besten mit klassischen Gardinen zu hängt. Bloß keinem Festergucker Einsicht geben, wenn er vor der Türe steht, direkt nebenan. Denn jeder der rausschaut, kann auch gesehen werden. Nur das nicht.

Vielleicht sollte man mit einen Essay über die Bunkermentalität in prtoestantischen, meist neueren Pfarrhäusern schreiben, einen Aufsatz über die architektonischen Prärogativen oder warum nur bestimmte Pfarrer damals gewählt werden konnten. Alle, die heute ausgebrannt sind in ihren Ehen und ihren Dienstverpflichtungen. Damals wie heute noch. Das wäre sicherlich sehr einträglich, ist mir ähnliches Phänomen schon in der Gemeinde Köln Neue Stadt aufgefallen ist: eine durch und durch präsente Kirche mitten auf dem Platz, deren Ausbilicke innen wie Schießscharten in die Wirklichkeit gehen. Gut sichbare Bunkermentalität.

So schlimm wie in Köln ist es in Uedem nicht. Sicher nicht. Aber auch dort ist die Philosophie eines Pfarrhauses in Stein gesetzt deutlich spürbar. Und vielleicht auch der ausgesprochen stille Grund, warum immer dieselben Pfarrer gewählt werden: die die Phantasien der Gemeinde bedienen. Am besten mit Zeugungswunsch. Oder schon einer fast fertigen Familie. Menschen, die bereit sind, weit über die Maße des Erträglichen zu geben. Sich dort beheimaten, wo man scheitern wird. Scheitern muss.

Das Erdgeschoß selber ist kein solches. Die Ebenen verschwimmen in halbseitig gesetze Podeste. Ganz unten findet sich ein Wohnzimmer mit Kamin, dass wie ein Schwimmbad angebaut ist. Einmal quer ins Eck, wie man früher ein voll verglastes, kleines Schwimmbad an das Haus gesetzt hat. Damals in den 70er als Energie noch billig war und das Schwimmbad zu Hause den Hut und die Zigarre der Aufbaujahre ablösen sollte.

So zu besichtigen auch im Haus meines ehemaligen Schwiegervaters, seines Zeichens Superintendent im Bergischen. Der hatte sich auch so ein voll verglastes Schwimmbad mit Aussichten ans Haus gebaut. Rechter Winkel Refugium. So ist auch das Wohnzimmer in Uedem ausgefallen.

Völlig unsinnig, stellt es sich quer. Ein Biotop für den erschöpften Pfarrer. Kamin und gepflegte Zweisamkeit, wenn Sie denn Zeit hat. Das Wohnzimmer als Beziehungsprojektion schützt zum Alltag ab, Küche und Pfarrbüro - aber bleibt in seinem Zitat ein Schwimmbad. Es hat dieselben Maße für eine 15 Meter Bahn, die ich in fünf Zügen bequem durchqueren kann. Es hat nun dieselbe Deckenkonstruktion, diesmal nicht in Kunststofflamellen, sondern in weiß gestrichenem Holz ausgeführt, da kein Wasser eingefüllt wurde. Es hat dieselbe lange Fensterfront zum Rausschauen in den Garten. Die einzig tauglichen Fenster, aber schon so übderdimensioniert, dass sie sich mit nichts zu vertragen scheinen. Zu Versöhnung wurde der Kamin eingebaut. Sinnvoll für den Winter. Behaglichkeit im Schwimmbad.

Sicherlich, man kann leben dort - aber man muss es nicht.
Dem sich quer stellenden Schwimmbad folgend, geht man drei Holztreppen hoch, da man ja Funktions- von Entspannungsraum trennen muss - was gleichzeitig eine geschlechtliche Trennung symbolisiert. Denn jetzt kommt man in das Esszimmer. Eines ohne jegliches Fenster. Von allen Seiten gibt es die weiß gekälkten Mauern. Aussichtslos hier einander zu entkommen.

Man muss es sich vorstellen. Die einzige Aussicht ist ein hoch stehender Fensterspalt auf den Hof. Unansehnliches Durcheinander, daher abgetönt. Unten im Wohnzimmer eine riesige Fensterfront, dann drei Treppen hoch und nichts mehr. Keine schöne Aussicht. Eigentlich gar keine Aussicht. Sonst kein Fenster mehr. Die drei Stufen zum Schwimmbad, rechts und links eine Mauer, vorne die sich öffnende Türe zur Küche. In der Mitte ein Tisch, darüber der helle Fleck an der Decke, dort wo die Lampe hing. Die auch tagsüber brannte und brennen muste. Der Beginn der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Ewiges Licht, falls aus, erneuern.

Szenen sind vorstellbar. Frühstücks-, Mittags- und Abendessen-Szenen. Keine Aussicht. Nur Menschen beieinander wie Insassen. Immer nur Blicke auf Wände oder das Gesicht gegenüber. Der Tisch bietet geringe Ablenkung. Gerade wenn er noch so gedeckt ist. Vielleicht hat man Glück. Aber sonst knallen die Menschen hier uneingeschränkt aufeinander. Kein Entrinnen möglich.

Ich denke, kein anderer Raum bringt diesen Lackmustest für Beziehungen. Aber muss das sein? Ein quadratischer Raum, in dem die Frau aus der Küche und der Mann aus dem Schwimmbad kommt. Wer hat sich so was ausgedacht? Und warum?

Architektur prägt den Menschen. Weitaus mehr, als er sich eingestehen möchte. Wie ein Huhn, wird er ins Pfarrhaus gesetzt, freut sich über seine Stelle und verendet in klerikaler Stallhaltung. Schuld ist wahrscheinlich niemand daran, weil alles unbewusst geschieht. Frage diesen Architekten, was er sich gedacht haben mag, und er wird dir 1000 und eine tolle Geschichte dazu erzählen. Die Wahrheit ist: dieses Haus macht krank. Muss krank machen, weil es so ist, wie es ist.

Die Gemeinde wird es nie so sehen können, wie ich es sehe. Sie wohnen nicht darin. Es ist ein Geschenk für den oder die Kommende/n. Und es ist ein Kriterium zur Stellenbesetzung. Klar doch. Warum auch nicht, wenn eine Dienstwohnung eingebaut ist.

Die Kinderzimmer oben - aufgereiht im Gleichmaß - haben zwei Besonderheiten. Die möchte ich nicht verschweigen. Nach vorne gibt es einen durchlaufenden Balkon. Das ist schön und sehr selten. Nur dass man wenigstens dort aus dem Haus heraus treten kann. Dass man Luft bekommt. Die Aussicht ist gering - sie geht gegen eine weiße Wand über den eigenen Garten hinweg. Aber es gibt diesen Balkon, der alle drei Zimmer von außen verbindet. Das ist eine Ahnung von Idee - immerhin. Als könne man auch draußen sein.

Allerdings ist dieser Balkon in Stahl ausgeführt. Angebaut als schwindelndes Trittgitter, das kein Hund niemals betreten wird. Kein fester Boden unter den Füßen. Eine Metapher für abgründige Beziehungen unter Geschwistern, ungewollt und wohl aus Einsparungen dort hin gesetzt. Nicht zu verwenden als Aufenthaltsort. Durch seine Existenz schon verlorene Möglichkeit von Austausch und Begegnung. Unvorstellbar, dort abends zu sitzen und einen Wein über dem Sonnenuntergang zu trinken. Es bleibt schlicht ein Stahlgitter als Bodenblech. Durch nichts zu kaschieren.


Und vor allen drei Zimmern ist dieser extra lange Gang, wie im Knast an den drei Türen vorbei, davor ein Schrank von mindestens sieben Meter Länge. Durchgehend. Dass muss man sich vorstellen. So etwas habe ich zuletzt in einer katholischen Sakristei gesehen. Dort diente er dem Aufbewahren liturgischer Gewänder, wovon es in der katholischen Kirche ja eine Menge gibt. Nun also ein sieben Menter Schrank mit vier Abteilungen (Pappa&Mamma, drei Kinder). Alle durch eigenes Schloss gesichert. Diese runden Schlösser, wie man sich auch in Büroschränken findet. Da steckst Du den Schlüssel rein und drehst ihn um, dann musst du das Schloss selber drücken und dann kannst Du an die Regale. Die Hemden. Was auch immer. Das alles mal vier - in diesem Flur wie ein Gefangenentrakt. Eine Intimität, wie man sie aus Umkleideräumen kennt.

Von der Dusche am Ende des Ganges möchte ich nicht mehr schreiben müssen. Vielleicht wäre es noch erwähnenswert, dass das enge Treppenhaus genau denen im Landeskirchenamtes entspricht. Denen, die nicht repräsentativ sind, sondern sich zwischen den Etagen verbergen. Eng und funktional. Diesmal kein weiß getünchter Stein, sondern ungestrichener, verschalter Beton als Begleiter an der Seite. Mit diesen Beton Überschüssen aus den Verschalungen, die sich wie kleine Linien an der And etablieren. Eine Zeichen letzter Verschwendung - zugleich ein Dokument klarer Betonstruktur. Überhaupt scheinen die Parallelen zum Landeskirchenamt nicht zufällig zu sein. Die Maße stimmen überein. Die darin gebotene Definition des Menschen auch. Es wird vielleicht derselbe Architekt gewesen sein, was durchaus möglich erscheint.

Architektur, so sage ich, definiert den Menschen. Wir können uns lange über Stallhaltung in Zeiten der Vogelgrippe unterhalten, aber wir müssen hier und da auch mal über die Bedeutung von Architektur im Pfarramt reden lernen. Zumal wenn man überlegt hat, ernst haft überlegt, dort einzuziehen. Dann sollte man wissen von den unausgesprochenen Implikationen und der nur bedingen Möglichkeit, diese Zuschreibungen in Pfarrhäusern zu ändern. Gegen die Mauern ist kein Kraut gewachsen.

Sicherlich bin ich dazu anders sensibilisiert, denn das Thema der Zuschreibung und Definition ist mir nahe. Ich habe es selber ja erlebt und erlitten. Zwischen den Geschlechtergrenzen und mitten drin. Die Definition dort ist deutlich und klar. Der Frau eine quadratisch, vielleicht perfekt eingerichtete Kiefernalltagsküche, mit wenig Aussichten. Kaum Spass am gemeinsamen Kochen. Die Türeöffnet sich dann für ein Esszimmer ohne Ausblick. Der fokussierte Tisch. Vaterunser Übel Amen. Drei Treppen zur Entspannung oder zurück zur Arbeit, die Landeskirchenamtstreppe hoch ins eheliche Schlafzimmer, ohne Raum und Tapete, über dem Eingang gelegen. Ab und an, so denke ich, darf auch die Frau des Hauses ausspannen und in langen Lebenszügen im Schwimmbad Wohnzimmer zum Baden gehen, den Kamin anzünden. Sich bei ihrem Beschützer ankuscheln. Aber eigentlich ist es ja auch kein Wohnzimmer, sondern ein architektonisches Sprengel, eine verlogene Welt. Selbst wenn der Kamin noch glimmt.

Klar kann man in Uedem Pastor und Pastorin sein. Und auch dort leben. Man muss sich dazu nur arrangieren können mit diesem vor-bereiteten Platz. Mit alle dem, was er transportiert und aussagt und ich bin sicher, es gibt mehr als einen Pfarrer, der das sich und seiner Familie locker zumuten will, bevor er gänzlich scheitert. Früher oder später bekommt jeder, was er verdient.

Alles im Leben ist und bleibt Aneignung. Sagte ein guter Freund von mir. Aber man sollte die Determinanten kennen und den Preis, den man dafür zahlen muss. Selig, wer dort nur wohnen kann.

Denn wer wirkliche Menschen will, darf ihnen auf Dauer solche Räume nicht mehr anbieten. Wer dort leben kann? Vielleicht ein Single, der nicht scheitern muss, weil er es schon hinter sich hat. Das wäre eine Idealbesetzung - sicherlich und gewiß. Alles andere, so ist zu befürchten, wiederholt, was vorher schon war.


Montag, Oktober 23, 2006

Binnenwahrnehmungen oder bürgerliche Behaglichkeit

Es muss so etwas geben wie Stellvertretung. Diese Nacht habe ich mal wieder nicht geschlafen. Schon wieder tanzten die Erinnerungen an Kirche auf meinem Bett, liessen mich schlaflos zurück. Es gibt Dinge, die braucht man nicht mehr im Leben. Türen, die man endgültig zu machen muss. Durch die man nur noch einmal geht. Ich gestehe: das habe ich nicht gelernt. Abschiede zu leben fällt nicht leicht. Zumal nach 21 Jahren Engagements, Hoffens und Wartens.

Das Presbyterium in Uedem hat jetzt entschieden, mich auch zu werfen. Im Gehorsam der Vorgaben des Landeskirchenamtes. Mit sehr kruden Begründungen und immer wieder an meiner Person fest gemacht. Ich bin, die sich fehl verhält. Was muss ich doch für ein schrecklicher Mensch sein.

Vielleicht muss es so etwas wie eine sich selbst bestätigende Binnenwahrnehmung geben, die anderes nicht mehr zulässt. Wer die bürgerlich-beamtete Behaglichkeit stört, weil er seinen Gefühlen Luft macht, weil er sich nicht an unausgesprochene Konventionen hält, weil er beim Namen nennt, was andere nicht mehr anschauen, muss damit wohl zwangsläufig rechen. Dabei wäre es ein Einfaches gewesen, anders zu entscheiden. Die Gemeinde hätte es nichts gekostet.

Es ist das Phänomen der Behaglichkeit in den eigenen Anschauungen, dieses nicht gestört werden wollen, was sich deutlich macht. Und eben eine Wahrnehmung, die auf sich selber fixiert bleibt: das eigene Ergehen im Mittelpunkt. So agieren auch Manager, wenn sie alles andere ausblenden. So agieren Menschen, die sich nur noch von sich selber berühren lassen. Sei es die eigene Hilflosigkeit, den eigenen Schmerz, der eigenen Ohnmacht. Oder auch umgekehrt: das Gefühl eigener Macht, das unberührbare Selbstbild, der innere Götze. Ein schöner Titel für ein Buch.

Nun sollte ich doch, so sagte man mir, bitte Verständnis haben. Bitteschön - wofür denn? Ich solle nun nicht so hart urteilen. Aber warum denn nicht? Wo Befindlichkeiten mehr zählen als Ergebnisse, wo man selbst vorab seine eigene Hilflosigkeit als Konfessionseintritt zelebrieren muss, ist kein Platz mehr für mich. Dahin gehe ich nicht zurück. Nie mehr, das habe ich geschworen.

Eigentlich sollte ich dankbar sein, die Dinge zuletzt noch einmal so treffend auf den Punkt gebracht zu haben. Ein Lehr- und Meisterstück klerikalrer Binnenwahrnehmung. Da gehöre ich nun nicht mehr hin und irrig war mein Denken, dort etwas aufbrechen zu können.

In meinen Coachings lerne ich meinen Klienten genau das Gegenteil. Dass man den eigenen Gefühlen trauen kann, weil sie durch das Leben tragen. Dass man es sich selber nicht zu behaglich macht, um offen und frei zu bleiben. Dass man - auch ohne den Tank voll zu machen - weit reisen kann, vor allem zu sich selber. Ohne kirchlichen Katalysator. Mich wundert es daher doch nicht, dass die Gemeinde sich zum Sitzen Bleiben und Beharren aufs ich selber entschieden hat. Nun, wo ich diesen letzten Schnitt setze, damit ich leben kann.

Da kommt mir zum Abschied diese Ohnmacht entgegen, die ich nun noch verstehen soll: warum und wozu ist das gut ? Was ich zum Leben brauche, ist nicht darin. Ich nehme mir da keinen Sack mehr auf die Schultern. Es taugt nicht für meinen weiteren Weg.

Ich muss nichts verstehen, wo es nichts zu verstehen gibt. Warum darf ich das nicht sagen. Vielleicht muss ich nur eines: endlich wieder schlafen lernen. Zu oft waren in letzter Zeit diese kleinen Männchen auf meiner Bettdecke. So tat es gut, heute nacht um 2 Uhr den Fernseher einzuschalten und stellvertretende Kriege zu genießen. Gewiß: wir sind und bleiben Helden. Wer sonst, wenn nicht wir.

Wer das nicht glaubt, sollte wieder in die Kirche gehen. Spät morgens bin ich eingeschlafen. Erschöpft aber doch etwas beruhigt, war die Welt doch gerettet und meine Wut stellvertretend vorbei.




Donnerstag, Oktober 19, 2006

Herr Melchert will sich versichern

Herr Melchert
fragte in einem Internet Forum:

„Wie kann ich als Selbstständiger mit monatlich 4.000 Euro Einkommen mich bei der privaten oder gesetzlichen Krankenkasse versichern. Das momentane Problem besteht darin, dass ich zur Zeit keine Versicherung mehr habe und nicht ohne umfassende Gesundheitsprüfung in die private aufgenommen werde. Aufgrund meiner Vorerkrankung scheint dieser Weg nicht mehr gangbar zu sein. Kann mir jemand helfen?“

Ich antwortete wie folgt:

Herr Melchert


es gibt keinen direkten Weg zu der von Ihnen angestrebten Lösung.
Es geht nur über Umwege:

a.
Sie rechnen sich arm. D.h. reduzieren Ihr eigenes Einkommen. Dazu braucht es jemanden, der Ihnen die 4.000 Euro mtl. abnimmt. Zur Not würde ich mich dazu bereit erklären. Sie sollten es aber treuhänderisch regeln lassen.
Dann sind Sie in der Kategorie "wechselfähig" angekommen udn erstaunlicher Weise im Versicherungsbereich wieder handlungsfähig. Übrigens kenne ich tatsächliche Armutsfällen hinlänglich und so einen abgebrannten Pleitier kennen zu lernen, der mit Lungekrebs von den guten Zigarren seinen Basistarif in der Privaten nicht mehr zahlen kann - das ist schon eine besonderes Ereignis.

b.
Sie müssen warten, bis die Private Sie aufnimmt. Das wird sie mit Freuden tun und - so Ihre Gesundheitsprüfung positiv ausfällt - dann die entsprechenden Prämien kassieren. Zudem werden sie einen Vermittler sehr glücklich machen. Der Basistarif, der kommen soll - eignet sich kaum für die Versicherung.

c.
Highraten Sie unbedingt und sofort. Übertragen Sie die Geschäfte Ihrer Frau und lassen sich mit familienversichern. Das bedingt viel Vertrauen, aber solange ein Deal dahinter steht, scheint es auch möglich zu sein. Wegen der Liebe etwas zu tun, ich wohl ungleich schwerer

d.
Sie verlegen ihren Wohnsitz glaubhaft nach Polen. Wenn man dort Führerscheine machen kann, kann man sich dort auch krankenversichern. Vielelicht gründen Sie dort noch mal Ihr Unternehmen und essen per Zufall bei einem Chinesen. Mit dem machen Sie ein Joint-Venture und bauen eine Krankenversicherung nur für deutsche Ausländer auf, die es nach Polen verschlagen hat. Nach drei Jahren über nehmen Sie die Barmenia in Wuppertal. Sie lassen sich vollversichern.

e.
Transferieren Sie ihre Gewinne an eine ausländische Muttergesellschaft, mit der Sie einen Gewinnabführungsvertrag machen. Eine LTD hat man schon für kleines Geld gegründet. Dann rechnen Sie sich arm und lassen sich von Hartz IV ernähren. Für Ihre Krankenversicherung brauchen Sie rein gar nichts zu zahlen. Zugegeben, eine der kostengünstigsten Varianten.

f.
Versuchen Sie bei Bestattungen an die Daten des Verstorbenen zu kommen und übernehmen einfach dessen Identität. Da man in Deutschland damit nicht rechnet, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, damit durch zu kommen. Wenn Sie weder Freunde noch Partner/in besitzen, von Kindern frei sind, erhöht sich die Erfolgswahrscheinlichkeit um ein Dreifaches. Aber Vorsicht: erkundigen Sie sich zuvor genau, woran er verstorben ist. Denn das Risiko müssen Sie jetzt auch in die Krankenversicherung mitnehmen!

g.
Hinterziehen Sie Steuern und lassen Sie sich anzeigen. Gehen Sie sofort ins Gefängnis (wenn Sie über Los kommen, kein Geld einziehen) und lassen sich dort sozialversichern. Die Leistungen der Anstalt entspricht in etwa dem ausgelobten Basistarif.

h.
Highraten Sie eine Frau, die mehr verdient als Sie. Dazu müssten Sie ggf. die Verhältnisse in Deutschland etwas ändern, verdienen Frauen in der Regel 24,8% weniger als Männer für den gleichen Job. Sie könnten sich daher zum Bundelskanzler aufstellen lassen oder mit leuchtendem Vorbild voran gehen und ihren eigenen Posten einer Frau überlassen. Dann entweder weiter wie bei c. oder eben nicht. Verdient Ihre Frau mehr als Sie, muss sie private Krankenkasse auch Sie in Volltarife aufnehmen: Voraussetzung auch hier wäre, dass Ihre mehr verdienenen Frau in der privaten Krankenkasse gemeldet ist.

i.
Sie machen wie in c. jedoch konnten Sie sich nicht zurück halten und Ihre Frau ist schwanger geworden. Völlig unüblich, wollen Sie die Schwangerschaft nicht abbrechen lassen und freuen sich auf Ihre Drillinge. Ein Versicherungsberater kommt zu Ihnen und sagt, dass es in den ersten Jahren kein Problem sei, auch die Kinder privat mit zu versichern. Dennoch beschleicht Sie die klammheimliche Angst, es könne mit fünf zu versichernden Personen von einem Einkommen doch etwas eng werden.
Sie kaufen eine Flasche Pino Noir, um an einem gemütlichen Abend ihre Frau zur Rückkehr in die gesetzliche Kranken- und Familienversicherung zu bewegen. Dann weiter wie oben mehrfach beschrieben. Alternativ zeugen Sie noch mal Drillinge und beschließen, ab sofort sich nur noch dem Weinbau im Veneto zu widmen.

j.
Bis die Gesundheitsreform verabschiedet wird, bleiben Sie ohne Versicherungsschutz. Es geschieht, was Sie immer schon befürchtet haben: Sie werden auf der Kö´ in Düsseldorf von einem Bentley angefahren, der leider auch noch Fahrerflucht begeht. Dumm sitzen Sie nun da - mitten auf der Fahrbahn.. Zum Glück finden Sie einen 200 Euro Schein in Ihrem Jacket und winken den nächst-besten polnischen Wagen heran. Unter beißenden Schmerzen schaffen Sie die Fahrt ins Krankenhaus in Kattowicze und lernen dort eine blonde Krankenschwester kennen, die Sie freundlich mit "Bittaschön?" und einer weit offenen Bluse anspricht ... Alles dann weiter wie in c


Sie sehen, es gibt noch 100 und eine Variation, der Situation Herr zu werden. Das Leben ist und bleibt halt lebensgefährlich und mit Krankheiten sollte man nicht spassen.Was die Menschen heute an Überlebensstrategien brauchen, steht auf einem anderen Blatt.

Mittwoch, Oktober 18, 2006

Geliehene Mäntel

Wenn ich morgens mit Rocco spazieren gehe, purzeln mir die Themen des Tages durch den Kopf. Nicht immer kann ich sie fest halten, manchmal verliere ich den Blick dafür, wenn ich sehe, wie Rocco zwischen den Salatblättern wildert oder sich einfach nur der Bewegung und des Lebens freut.

Gestern begleitete mich neben Rocco ein Gedanke, was ich tun könnte, um mein Leben erklärlich zu machen. Erklärlich für andere zu halten. Denn das ist gar nicht mal so einfach und mein Rechtsstreit mit der Kirche hat mir gezeigt, dass dort niemand mehr ist, der meine Geschichte kennt. Sie wird nun zusammen geklaubt, man entnimmt einer umfangreichen Akte das, was brauchbar erscheint. Ein Steinbruch, der Material hergibt. Wofür auch immer.

Ich denke, vielen Menschen geht es heute so, dass die Sinnfrage, der rote Faden, das was uns das Leben wertvollmacht und vielmehr noch die Frage, wer man denn sei, was man denn darstelle, zwischen den Fingern zerrinnt. Die Diskussion um das Prekariat, die neue Unterschicht und die Auseinandersetzung mit dem Prekären, dem Ungewollten, Zufälligen macht Angst. Auch mir, was ich zu geben.

Also auf die Frage, wie ich mich wieder-finden kann, kamen mir einige Antworten. Denn immer sind es die innernen Bilder, an denen ich mich entlang hangeln kann. Sie bestimmen, wie ich mich innerlich fühle. Sie machen meine Wahrnehmung aus und sind eng damit verknüpft, in welchen Traditionen ich mich wieder finden kann. In welchen Bahnen meine Anlehung wie Ablehnung erfolgt.

Da war zuerst das klassische Bildungsbürgertum. Meine Heirat mit Heike, die Tochter einer Superintendentens. Die Verbindung mit den protestantischen Traditionen: Zeltlagerfahrten mit der Jugend. Taize und die Überlegung, dort vor Anker zu gehen. Einen eigenen Ort zu finden. Dann der Zivildienst und die Auseinandersetzung mit den Menschen. Wer gebraucht wird, kann sich selber vergessen. Es tat gut, da zu sein. Damals ein Bruder im Schwesternwohnheim. Heute eine prekäre Schwester ... auch so lassen sich Wege beschreiben.

Die Heirat und das Examen waren eigentlich das Eintrittsbillet in die beamtete Welt der Pfarrherren, die Sicherheit, die sich nicht ausweisen muss. Ganz anders als viele der Menschen, hat ein Pfarrer nach seiner ersten Berufung ausgesorgt. Er kann bleiben. Er muss nicht wechseln. Er ist installiert. Ein Gefühl, was ich selber nicht kennen gelernt habe. Was mir fremd erscheint, nach allen Wechseln die kamen. Ein Status, der anachronistisch ist. Gegen die Zeit steht.

Vor einer Woche feierte man das Laubhüttenfenst als Erinnerung der prekären Situation Israels, der Juden. Ein komischer Anblick war es, diesen Holzverschlag an der doch festen Betonmauer der Synagoge in Duisburg zu sehen. Eine Erinnerugn an das Unbehauste. Das Christentum hat sich davon verabschiedet. Es gibt das Beamtenrecht. Und Kirchen, die bestenfalls verkauft werden können. Das Prekäre ist im Judentum zu einem Signum der Selbstversicherung geworden, so weit, dass man Bretterverschläge an hochmoderne Synagogen legt. Damit man offen bleibt, flexibel für die kommenden Herausforderungen.

Vielleicht war mir schon damals der jüdische Weg lieber. Meinen Wechsel und Übergang ins andere Geschlecht, manchmal nenne ich es auch Desteration, verdankt sich von Anfang an der Begleitung jüdischer Texte. Da war auf einmal Else Lasker-Schüler neben mir, meine Ziehmutter, wie ich sie nannte. Ein Enfant terribel mit Gedichten, die so wunderbar leicht mein Herz erreichten. Es war der Band: Ich muss Dich ansehen, immerzu, den ich auf dem Weihnachtsmarkt in Schloiss Lüntenbeck entdeckte, alles kam ins Klingen bei mir, Schmerz löste sich und Hoffnung wurde gefasst, dass Unfaßbare doch zu wagen.

Dann Rose Ausländer, die mich begleitete mit ihren kurzen Versen, die über ihre Lippen fielen wie überreife Früchte aus langen Jahren. Eine weise Frau, unscheibar und geachtet. Sie starb in dem Monat, wo ich meinem Übergang in Wuppteral machte. Benachtbart und nah, in Düsseldorfer Altenheim, dem einzigen wo Tag und Nacht Polizei Patrollie fährt. Schon immer suchte ich Verbindungen, die mich hielten, wenn andere Leinen gekappt wurden. Uns do wurden beide zu meinen Müttern und Freundinnen, Ziehmütter in Zeiten, wo die meine ausfiel. In deren Texten konnte ich das Ungelebte in mir wiederfinden. Und auch das Abgelegte, der Weggang, das Exil. Es war dieser Zauber des Dazwischen, den man Inter-esse nennt, der mich dort packte und nicht wieder los lassen sollte.

Der Weg in die bürgerliche Existenz scheiterte dann auch in dem Moment, wo es nur wenig dazu bedurfte, ihn zu realisieren. Alles stand bereit, ich hätte nur gehen müssen. Was wäre geworden? Ein Pfarrer, vielleicht jetzt Superintendent mit Frau und drei Kindern. Ein Engagement für den Protestantismus, dem ich mich in meiner beamteten Existenz verpflichtet gesehen hätte. Etwas Chaos vielleicht und doch eine ausweisbare Lebensweise: der Apfelbaum im Garten des Pfarrhauses. Es sollte nicht sein.

Der Traum scheiterete dort, wo ich mich entschloss zu gehen. Wo ich keinen anderen Weg mehr für mich sah, als dem nachzukommen, was lange Zeit in mir verborgen war. Es ist ja nicht so, dass man einfache Wege geht, um solche Entscheidungen zu treffen. Man wechselt das Geschlecht nicht wie die Straßenseite. Das Beste, was die Theologie mir bot, war ein gnädiges Versteck vor mir selber. Bis die Zeit reif war, bis ich gehen konnte. Sie war auch der Schoß, in den ich mich bergen konnte. Der alle Tränen aufnahm und sah, so gnädig war mir die Theologie und die Botschaft von der Annahme des Menschen bei Gott.

Erstaunlich war und blieb, dass auch die Menschen blieben. Einige. Unvergesslich blieb mir die erste Offenbarung nach außen. Da sass ich an einer Schreibmaschine, hatte keine Worte zu sagen, nur zu schreiben. Tränen rollen mein Gesicht entlang, schufen Rinnen für später. Und dann tippte ich mit Anschlägen, was ich nicht sagen konnte. Eine eigene Art von Kommunikation, jemanden mitzuteilen, dass das Leben eine Wende nimmt. Wie still stehende Momente im Takt der Typen, die trocken aufs Papier klatschten. Plakk, plakk, plakk ... als müsse ich mich langsam, mühsam aus allem heraus arbeiten. Fakten schaffen. Plakk, plakk plakk ... machte die Maschine und ich weinte dabei.

Meinem Schwiegervater drückte ich später eine Träne ins Revers, als auch er blieb und mich einfach nur in den Arm nahm. Er spürte von der ungeheuern Zerrissenheit in mir, nahm mich in den Arm und zusammen in seine Arme. Blieb den einen Moment, bevor ich gehen konnte und mir damit unvergeßlich. Kein andere der Pfarrer oder Theologen hat so was später gekonnt. Niemand mich so gesehen, wie er in diesem Moment. Jahre späte stand ich im Talar an seinem Grab. So, als hätte ich ein Versprechen wahr gemacht, als gelänge was er sich so erwünscht hatte. Allein, es kam anders und sollte anders kommen.

Die Generation der sorgenden Väter in der Kirche hat schon lange abgedankt. Die Sorge ist zu sich selber zurück gekehrt. Sie frisst sich fest in den Institutionen, kennt nur noch die Loaylität zum eigenen Etat, dem Überleben als Beamtenapparat. Schon damals sagte mein Pfarrer, sie gehe den falschen Weg und der hatte noch als illegaler Hilfsprediger das Laubhüttensyndrom der bekennenden Kirche in sich. Heute ist Kirche legal und mehr auch nicht.

So also nahm ich schon damals Abschied von der bürgerlichen Existenz, ohne es zu wissen, ohne es wirklich zu ahnen. Die Versprechungen des Landeskirchenamtes, die Zusicherungen, ich sei "wertvoll", entpuppten sich als eigene Exculpierung. Eine Entschuldigung, selber nicht da zu sein. "Kommen sie wieder, wenn sie gesund sind!" war einer der Refrains im Landeskirchenamt. Und so wurde ich zum "Experiment Mensch", auf das man sich nolens volens eingelassen hatte. Weder ein JA noch ein NEIN. Irgendwie dazwischen, dam man mir als Frau den Weg nicht verbauen wollte. Es hätte als Kehrseite auch Verantwortung bedeutet, diese Entscheidung zu treffen. Und das ist bis heute noch das Schlimmste, was man verlangen könnte: Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.

Genau das aber tat ich nun. Und es ist eine sehr merkwürdige Erfahrung gewesen: in eben dem Moment, wurde ich gleichzeitig entmündigt. Ein Exemplar. Ein Fall Kammann. Da hörte das Gespräch auf, da behandelte man mich, da gab es keine Begegnung mehr. Da verschwand ich hinter einer Wand und die Phantasien liefen heiß: Was für eine Frau wird dort erscheinen. Manchmal denke ich ja, es war nicht der Wechsel selber, der Schwierigkeiten machte. Viel schlimmer war, dass die Frau, die dann erschien, nicht den Phantasien der Kirchenmenschen entsprach. Diese Enttäuschung wurde nie angesprochen. Nie überwunden. Nie gewürdigt. Stets wussten andere, wie ich zu sein hatte. Und wenn ich dem nicht entsprach, war Ärger vorprogrammiert. Es war die erste und eindrücklischte Erfahrung meines Frau-Seins in der Kirche.

Sieben Jahre habe ich dazu geschwiegen. Habe versucht, mitzukommen. Mich einzufinden. Sieben Jahre habe ich warten müssen auf meine Ordination und doc gewusst, dass ich hinfort a-synchron lebte. Nicht mehr in-Takt. Andere konvertierten in ihre Pfarrämter und Familien, taten, was ich auch getan hätte, wäre da nicht jener eine Riß gewesen, der mein Leben still stehen ließ. Ein Interim war es, und dennoch schlug mein Herz weiter, pumpte es Erfahrung und Erlebnisse in mein Leben. Ein merkwürdiges Dazwischen, wenn man sich sputen musste und zugleich still stand. Erst sollte alles erledigt sein, bevor ich weiter kam in der Kirche. Ein Beschluß wohlwollend wie eine Dornenkrone. Und so strengte ich mcih an, schaffte Epilation und Gutachten, Operation und Personenstandswechsel, Scheidung und Umzug innerhalb kürzester Zeit. Beistand gab es da nicht. Nur der wieder kehrende Refrain: Kommen sie wieder, wenn alles erledigt ist.

Ich kam wieder, alles war erledigt und dann ruckelte es weiter in einem Zug, den ich damals besser verlassen hätte. Es folgte Vikariat und die Ordination. Immer noch die Phantasie, dort bleiben zu können. Als Frau, die schwieg über ihren Weg. Die einfach nur funktionierte. Nichts durfte herauskommen und so hielt ich mein Versprechen, während schon längst in den nächtlichen Tafelrunden der Ev. Akademie hinlänglich über mich parliert wurde. Kirche bleibt ein Dorf und so wussten viele viel zu wenig von mir. Niemand sprach mich an, ein schalltoter Raum ohne Echo umgab mich. Schlafwandlerisch glaubte ich, im Leben anzukommen.

Und ich schaffte es. Nach sieben Jahren wurde auch ich ordiniert. Eine öffentliche Handlung, eine Inititation und Begrüssung im Leben. Geschafft, dachte ich und sollte mich irren. Wer Bilder von damals ansieht, ahnt etwas von der seligen Entspannung in meinem Gesicht. Von der Würde und dem Leben, das sich da breit machte. Mit einem Drehtanz ging es zurück zum Altar, ein Wiedersehen im Leben. Damals war es die Wiederholung nach vorne, die mir als Kategorie diente. Dass man ein Leben loslassen und wieder gewinnen kann. Die ganze Bibel war voll dieser Geschichten und so dachte ich, das gelte auch für mich. Einen kleinen Moment war ich weg, dann aber als Frau neu da und angenommen.

Es war Kierkegaards Furcht und Zittern, das mich seit Jahren begleitete. Meine Erlaubnis zu gehen, die teleologische Suspension des Ethischen, was nichts anderes bedeutete, um des Glaubens willen die Bedenken in Urlaub zu schicken. Ein Abraham, der da von Gott losgeschickt wurde, den Isaak zu binden. Die Bindung Isaaks auf dem Berg Moria war zugleich seine Loslassung und Freisprechung. Er bekam ihn wieder, als einen anderen. Und der Glaube, der Glaube wurde darüber nicht verrückt, sondern zeigte sich als einzige und feste Konstante, als flexibel genug, dem Leben eine neue Wende zu geben.

So dachte auch ich und so lebte ich auch in diesem von Kierkegaard geliehenen Mantel, der so voller biblischer Luft war und atmete. Der mich umschloss und meine Nacktheit dazu. Denn Nacktheit muss bekleidet werden, will man die eigene Haut nicht permanent zu Markte tragen. Dem Zittern des Neuen muss die Wärme korespondieren, sonst friert sich die Seele zu Tode, verkümmert und bleibt zurück.

Später sollten andere Mäntel dazu kommen, doch davon ein ander Mal.



Dienstag, Oktober 17, 2006

Prekariat

Schon merkwürdig, wenn einem den ganzen Tag über ein Wort nicht aus dem Sinn gehen mag. Heute morgen passiert es, als ich das Radio anschaltete.

Das Prekariat war gefunden.

Während sich Politiker noch streiten, ob man in Deutschland das Wort "Unterschicht" überhaupt verwenden durfte, meldete sich die Friedrich Ebert Stiftung mit dieser souveränen Wortschöpfung zurück. Man habe nicht ein einziges Mal "Unterschicht" gesagt, sondern das Wort "Prekariat" benutzt.

Prekär. Auch diese Wahl.

Immerhin bietet sie jetzt Heimat den Heimatlosen an. Das ist nicht gering einzuschätzen. Dann erinnerte ich mich: Es gibt das Referendariat. Das Volontariat. Das Vikariat. Letzteres habe ich als Theologin auch geleistet. Es muss also immer was mit einer Ausbildung zu tun haben, hier bei diesen -iat Endungen. Nun also fragte ich mich: um welche Ausbildung handelt es sich hier? Und auch: Wer sollte mal ins Prekariat gehen und dort entsprechend ausgebildet werden?

Wäre das Prekariat nicht ein notwendiger Schritt für die Manager Ausbildung auszubauen? Ich denke da an ein sechswöchiges Seminar oder gar eine komplette Ausbildung in sozialer Kompetenz. Ein zweijähriges Prekariat für Führungskräfte in börsennotierten Unternehmen. Das würde ich dann vorschreiben lassen. Für alle, die über das mittlere Management hinaus schauen wollen. Und vielleciht auch für die Politiker dazu. Immerhin wäre dann der Gebrauch des Wortes sprachlich richtig verankert im Lebensgebrauch. Adäquat zu den anderen Ausbildungsformen auf -iat.

Aber halt, vielleicht habe ich da etwas miss verstanden. Schaue ich mir die Leistungen der angestellten Manager in Deutschland an, kann ich mich des Eindruckes nicht erwehren: schon lange wird dort die Führung ins Prekäre eingeübt.

Na, dann ist ja alles wieder gut. Endlich ist auch "unten" angekommen, was sich oben schon lange als Führungskultur gelebt wird. Daher: seid getrost. Das Prekariat kann ruhig kommen.

Karin Kammann
die sich ab heute nur noch Pastorin im Prekariat nennen wird.


Montag, Oktober 16, 2006

Rauchzeichen oder: das wieder gefundene Glück


Ich kann ihn noch riechen, meinen Opa.

Es war diese klassische Wirtschaftswunderkombination aus Hut und Zigarre – manchmal auch hinter dem Lenkrad eines Benz, von dem mir gestern eine Freundin schrieb. So wundbar treffend. Die überlebenden Großväter.

Auch mein Opa hatte Zigarre geraucht. Damals wollte niemand mehr dahinter zurück. Die Gardinen stanken nach billigem Tabak und Aufschwung, wenn wir ihn besuchten. So waren sie, diese Jahre nach dem großen Nichts. Wo man wieder rauchen durfte, als sei nichts geschehen.

In der Weimarer Republik hatte er mal Bilder von sich machen lassen, die ich später als Kind sah. Da stand er dann in geringeltem Turnerdress, der heute glatt als Badeanzug durchgehen würde. Die Oberarme zum Bizepsbeugen vorgestreckt; sein Schnurrbart diente als waagerrechter Fluchtpunkt, weit nach vorne suchend, gerades Kinn, offener Blick ... so stand er damals da, in der rechten Hand ein Stumpen, den er rechtwinkelig mit dem Zeigefinger umfasste. Das war ein Moment, der sich einbrannte in die Fotoplatte und mein kindliches Gedächtnis, als ich dieses Bild zum ersten Mal sah. Mein Opa anno 1918.

Danach kam - wie ich viel später erfuhr - viel Angst und Sorge, Arbeitslosigkeit und unendlich Schlage stehen für alles, zwischendurch ein Job als Bierauslieferfahrer für die Dortmunder Aktien, ohne Servolenkung und den schicken Bandeanzug, im Blaumann mit bloßen Händen. Dann erfolgte seine körperliche Rückbesinnung und folgerichtig der Eintritt in die Sportabteilung, die man damals schon „SA“ nannte.

Das alles erfuhr ich später, viel zu spät, als das mit dem Sport und Turnen auch schon vorbei war. Da fielen die Bomben mitten in den Garten, zerstörten sein kleines Genossenschaftshäuschen, ein und zwei Mal. Während dessen stahl er bei Krupp Rüstungsgüter: Wellbleche, die er über 13 Kilometer auf dem Rücken mir dem Fahrrad nach Hause schleppte, damit es nicht rein regnete.


Beim dritten Mal feierte meine Mutter Konfirmation. Alle waren in der Kirche und auf dem Tisch stand eine Torte, mitten im Krieg eine Torte. Unvorstellbar. Und während sie den Choral sangen, kam dieses Pfeifen wieder in den Garten, länger und durchdringender, das Schwein im Stall ahnte seine letzte Stunde kommen und die Splitter der Glasscherben schossen in diese Torte, die wie ein Mahnmal stehen blieb. Ein Sinnbild für eine weibliche Jugend im Krieg: ungenießbar nun. Ein erwachendes Mädchen, das bald auch Wellbelche schleppen lernte und irgendwie überlebte wie alle anderen auch.

Der Badeanzug war bald vergessen, aber irgendwann nach 1945 hielt mein Opa wieder diese Zigarren im angewinkelten Zeigefinger, den rechten Arm flach auf den Tisch. Die Zeiten änderten sich, das Haus blieb und der Tabakgestank kehrte zurück ...

Ja, sportlich war er - aber kein Nazi.Wie er immer sagte.

Übrigens habe ich erst vor Kurzem erfahren, dass er damals eine Schiffspassage bezahlt hatte. Nach Amerika von Hamburg aus. Auswandern wollte er. Weit weg. Das Leben wagen, wie es auch dieses Stumpen-Schnurrbart-Bild vermitteln konnte. Er kam in Hamburg an und das Schiff war weg.

Gescheiterte Fluchten und sein wieder gewonnener Stumpen.
Paffend in der Ecke nach dem großen Krieg.


Freitag, Oktober 13, 2006

Anrührung: Volvo 164E

Kann sein, ich habe eine Macke. Und wenn, dann auch eine ordentliche und ausgeprägte, darunter würde ich es wohl kaum tun. Also meine Macke ist seit nunmehr einem Jahr, dass ich alte Autos spannend finde. Irgend eine Reminizens an eine verlorene Zeit, vielleicht auch das Gefühl, etwas wieder-holen zu können, allein durch Anschauen und Betrachten, durch Berührung und Bewegung solcher metallenen Vehikel. Wie gesagt, den Benz fahre ich selber, aber allein die Vorstellung, dass es damit auch sein Bewenden hätte, kann ich nur als naiv bezeichnen.

Im Gegenteil - überall sieht man alte Autos fahren, entdeckt hier und dort dieses blecherne Kulturgut. Allein gestern am Parkdeck in Moers sprang mir dieser dottergelbe W123 Mercedes ins Auge: eine Farbe, die wir heute nicht mehr kennen. Ein augenzwinkerndes Erkennen, so als sei man allein durch die Wahl des Automobils einer neuen Gemeinschaft beigetreten, ohne Formulare, ohne Aufnahmeriten, ohne Beiträge - aber doch mit dem Signum des gegenseitigen Erkennens: ein Augenzwinkern für die Aufmerksamkeit. Ein Aha im Augenblick, mehr bedarf es nicht, um sich zu vergewissern.


Da meine Mechaniker - oh ja, ich habe diese neuerdings, da alle sich um das alte Auto mit einer Fürsorge kümmern möchten, die weit über das Übliche hinausgeht - meinten, ich solle mein Auto nicht im Winter auf eisglatter Fahrbahn bewegen, schaute ich im Internet nach einem Winterwagen nach. Ein kleines Auto, billig in Anschaffung und Unterhalt, gerade genug, die harten Frostmonate dem Benz zu ersparen.

Aber wie es so kommt: es ist das Auge, das begehrt. Und so blätterte ich in den Internet Seiten und blieb dann wie vom Donner gerührt an einem Volvo 164E hängen, der für 1.500 Euro nicht mal zehn Kilometer entfernt offeriert wurde. Schwedenstahl. Über dreißig Jahre alt. Dunkelblau. Wie nobel der auf einer grünen Wiese aussieht. Phantasien in meinem Kopf. Die ersten Fahrten nach Dänemark. Damals mit meinen Eltern. Wir waren Kinder und klein. Dieses Auto war schon damals erwachsen. Das Blut pumpte meine Ader aus der Stirn.


Wegklicken ging nicht mehr. Es gibt Dinge, die kann man besuchen und wieder verlassen. Bei diesem Auto war es anders. Welche Geschichte mag sich dahinter verbergen? Welche Umstände den Verkauf nahe legen? Ich rief an. Eine ältere Frauenstimme antwortete freundlich. "Hallo?" "Ich rufe an wegen dem Volvo, der inseriert wurde. Bin ich bei Ihnen richtig?" Etwas brüchig, aber lächelnd kam es zurück: "Durchaus!" Es war, als ob eine Erinnerung ihre Stimme streifte und wie ein Wind einen kleinen Wirbel machte, um sich sofort danach zu legen. Still und bereit. "Ich möchte das Fahrzeug gerne mal anschauen, könnte ich da bei Ihnen vorbei kommen? Ich komme aus Wachtendonk!" "Na, da werden Sie ja einen ziemlich langen Weg vor sich haben," scherzte sie, wohl wissend, dass nicht mal zehn Kilometer uns trennten. Und dann beschrieb sie mir den Weg zu sich, ein braunes Tor zum Schluss, vor dem alles endete. Dort sollte ich hupen und etwas Rücksicht nehmen, wenn nicht sofort geöffnet wurde. Ich versprach, daran zu denken. "Und rufen Sie bitte vorher an, wenn Sie kommen!" verabschiedete sie sich aus der Leitung.

Den Tag darauf wollte ich vorbei kommen. Das Gespräch ließ mir noch weniger Ruhe als das Auto. Beides zusammen bildete eine so eigentümlich perfekte Melange, wie sie selten vorkommt. Eine Anrührung auf Zeit, temporär aber bleibend. Vergänglich wie ein Parfum, dessen Duft man dennoch nie vergessen kann. Ich rief an, um mein Kommen anzukündigen. und erntete eine Abfuhr. "Nein. Heute passt es mir gar nicht. Tut mir leid!" Drei kurze Aussagen, nicht unfreundlich, aber bestimmt. Nein. Heute nicht. Ein Mensch mit Prinzipien. Jemand, der für andere nichts mehr machen muss. Schwedenstahl. Kam mir in den Sinn.

Am selben Tag fuhr ich wie aus Versehen am braunen Tor vorbei. Wunderte mich nicht, dass ich anhielt, ohne zu hupen und ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Nickte und fuhr weiter. Eine erste Annäherung. Ein Flirtversuch mit einem Auto. Einem Menschen. Einer Stimmung in mir. Ein leises Summen ging durch meinen Kopf, wie eine Melodie, die langsam ihre Töne fand.

Den Tag darauf rief ich wieder an. "Ah Frau Kammann. Schön, dass sie anrufen. Ja, kommen sie nur." Ein anderer Mensch, so schien es mir. Heiter, lustig, gut aufgelegt. Gelöst vor allem. "Ich komme dann zwischen Elf und halb Zwölf!", sagte ich und mich packte, trotz all der vielen Dinge, die ich an diesem Tag noch erledigen musste, eine gewisse Vorfreude. Endlich würde ich sie kennen lernen. Beide - den Wagen und sie.

Mit etwas Verspätung hupte ich vor dem braunen Tor. Nichts geschah. Ich wartete weiter, ohne die Hupe abermals zu betätigen. Es wird etwas dauern, hatte sie gesagt. Als der Gedanke zu Ende war, kam sie aus der Haustüre zum Tor, winkte mit ihren Armen wie ein Ruderer, der seine Ruder einzieht und öffnete das braue Tor, zu dem ihre weiße Bluse einen eigentümlichen Akzent setze. Wohlgenährte, braunrote Hühner liefen wie Kinder spielend über das Gelände. Die Sonne blinzelte durch die Bäume und für einen Moment war es wie ein Ankommen zu Hause. So ein Dejavu, als ob die Zeit stehen bleibt. Da stand er nun vor mir. Admiralblau und unversehrt.

Hinter mir quietschte das Tor. Ich stieg aus und die Frau gab mir ihre knochige Hand. Ein fester Druck, ein Lächeln um die Mundwinkel. Die Haare schneeweiß um ihr schmales Gesicht gebunden, begann sie fachkundig die Führung durch ein Stück schwedische Industriegeschichte. 20 Jahre lang, war der Wagen in ihrem Besitz. Erst rot, jetzt blau - ja sicherlich mehr als die angezeigten 220.000 KM auf dem Tacho sei er gelaufen. Sie schätze ihn auf mindestens 400.000 KM, so wie es auch in der Anzeige im Internet stand. Nein, die Polster seien wirklich hinüber und eigentlich wollte sie ihn gar nicht abgeben, aber jetzt ... und sie machte eine hilflose Geste. Jetzt ginge es nicht mehr.

Ja, er steht schon anderthalb Jahre so unter den Bäumen im Schatten, sei aber vor vier Wochen problemlos wieder angesprungen, als man ein Starterkabel zu Hilfe nahm. Ein ungehobener Schatz, der sich nicht aufdrängte. Der da stand wie ein Monument und daneben diese Frau mit dem langen Rock, der ihren schmalen Körper irgendwie zusammen hielt. Der Wind fuhr in ihre grauen Haare. Es wäre ein Einfaches gewesen, die Tür zu öffnen - kommen Sie bitte mit, wir machen jetzt eine Ausfahrt Gnädigste - den Motor zu starten, das Radio einzustellen und zu fragen: Wohin darf ich Sie heute ausfahren? Die Phantasie verschwand, als sie die Fahrertüre öffnete. Ein muffiger Geruch drang mir entgegen. Nässe und Feuchtigkeit hatten den Innenraum zerstört. Die Polster waren zerrissen und aufgeplatzt. Keine auch nur entferntest Möglichkeit, darin Platz zu nehmen.

"Damals sagten sie, dass ich deswegen kein H-Kennzeichen bekomme." Sagte die Frau und zuckte abermals mit ihren Schultern, so als müsse sie sich von einem ihrer besten Kleidungsstücke trennen. Ein Chanel Kostüm aus blauem Schwedenstahl. Sie öffnete die Motorhaube, die einen Blick auf den Sechs-Zylinder freigab. Ruhig lag er da, im Motorraum. 3 Liter Hubraum. Unverwüstlich, so hatte ich zuvor im Internet gelesen. Und nicht nur in Autos verbaut, aber dort langlebig wie kein anderer. Untenliegende Nockenwelle, viel Drehmoment. Bei Präsentationen ließen ihn die schwedischen Techniker immer weit über der Nenndrehzahl hochdrehen. Eine Minute, zwei und drei Minuten. Nach spätestens sieben Minuten sollen die Zuhörer gebeten haben, den Versuch abzubrechen. Worauf sie die lakonische Antwort erhielten: "Der läuft noch eine Stunde so, ohne Schaden zu nehmen."

Eine Autogasanlage war verbaut, was kein Wunder war hier an der holländischen Grenze. Bei aller aristrokatischer Schönheit achtete man doch aufs Geld. Und ein drei Liter Motor brauchte schon mal 16 Liter Gas, um die über anderthalb Tonnen Schwedenstahl zu bewegen. Nun stand alles still. Spinnen hatten im Motorraum ihre Netze ausgeworfen, um Beute zu machen. "Doch, der ist problemlos angesprungen!" sagte sie und zeigte, wie sie auf der Wiese hin und her gefahren sei. Wie ein Tiger im Käfig, dachte ich noch, während sie "Hin und Zurück, immer Hin und zurück" sagte. "Der ist ja leider nicht mehr zugelassen. Da kann ich nicht mehr auf die Straße mit."

"Warum verkaufen sie ihn denn?" fragte ich, um etwas mehr über sie heraus zu finden. "Ich wollte ihn eigentlich noch fahren, aber dann kam der Knochenkrebs. Und dann sagte ich mir: Gut, erst danach. Wenn ich das durch gestanden habe. Und jetzt, jetzt kann ich einfach nicht mehr. Wissen Sie, den haben wir schon so lange bei uns. Mein Mann wollte immer nur Volvo fahren und ich habe ihn über die Jahre einfach lieb gewonnen. Der hatte so was von einem Jaguar, sagte er immer. Nur viel zuverlässiger. Ja, und so steht er immer noch hier. Ich kann ihn nicht mehr fahren." "Lebt denn ihr Mann noch?" fragte ich. "Nein, der ist vor elf Jahren schon gestorben. Den Wagen habe ich dann behalten und selber gefahren. Und jetzt muss ich mich davon trennen."


Ich machte ein paar Fotos mit der Kamera. 1500 Euro waren ein mehr als fairer Preis. "Ja, es haben sich schon viele gemeldet. Zwanzig wohl und es kam schon jemand aus Stuttgart vorbei. Der hat dann auch Fotos gemacht. Aber ich würde ihn doch gerne in gute Hände abgeben. So dass er nicht verkommt," sagte sie mit der Gewissheit des endgültigen Abschieds, der auch ihr absehbar bevorstand.

"Ich werde schauen, was ich tun kann. Ein Freund von mir restauriert schwedische Autos in Berlin, vielleicht hat der Interesse." Mir wurde klar, dass ich das Auto nicht erstehen würde. Das erforderte fachmännische Arbeit. Da mussten andere ran. Mein Geschenk war diese Begegnung mit beiden. Dem blauen Volvo aus Schwedenstahl und dieser wunderbaren Frau daneben, voll Heiterkeit und Würde.


Die Hühner gackerten, als ich meinen Benz startete. Ich drehte das Fenster herunter und sagte dann wie von allein: "Wissen sie, wenn sie mal wieder ausfahren wollen, rufen Sie mich bitte an. Ich würde gerne mit ihnen eine Ausfahrt machen. Wenn auch nicht im Volvo, so doch mit Ihnen." Dann öffnete sie das braune Tor, ich wendete und winkte zum Abschied. Als sie das Tor schloss, war von außen nichts weiter zu erkennen. Ein kleines Haus im Schatten der Bäume. Mehr nicht.