Freitag, Mai 05, 2006

Schub ins Leben

Es war der 5. Mai 1959 um 2:30 Uhr, als ich als Zwillingskind in Essen das Licht der Welt erblickte.


Und die Glückwünsche, die mich heute morgen per Mail erreichten, sind ein guter Anlass, mal etwas mehr zu meiner Geburt zu schreiben.

Schon vor Jahren bin ich - 1992 während meiner Ausbildung im Predigerseminar Essen - meinen Wurzeln nachgegangen. Im Hyssenstift zu Essen, meinem Geburtsort, hatte ich damals meine klinische Seelsorge-Ausbildung absolviert.

Es beschrieb eine eigene Zeit, war ich doch in der HNO-Chirugie eingesetzt, der onkologischen Abteilung. Dort fanden sich Menschen, denen schon mal die Hälfte des Gesichtes abhanden kam und entfernt wurde. Diagnose gleichlautend und verhehrend: Krebs.

Spiegel zu benutzen, war auf dieser Station ein Tabu. In den drei Monaten meiner Arbeit dort sind sechs Menschen aus dem Fenster gesprungen. Weil sie sich nicht an Verbote halten konnten. Vielleicht war es keine gute Idee, diese Station in den fünften Stock zu legen. Die Fallhöhe ist beträchtlich, nicht nur die seelische.


In dieser Zeit habe ich mir die Mühe gemacht, meinen Geburtsort zu suchen. So einfach war das nicht, denn der damalige Kreißsaal wurde zum Chefarzt-Zimmer umgebaut. Das ist weder verwunderlich noch selten. Wo früher Leben gegeben wurde, sitzt nun der leitende Mann. Er besitzt diesen Ort. Wortwörtlich.

Als ich anklopfte, wurde ich freundlich hinein gebeten. Hinter einer Säule, so erklärte er mir bereitwillig, stand früher der Geburtstisch. Dort war auch ich zur Welt gekommen. Jetzt lag er zwei Schritte hinter dem massiven Edelholzschreibtisch, wo mir ein freundliches Lächeln mit Brille gegenüber saß.


Meine Mutter, so erzählte sie, hatte es damals leid mit den Zwillingen. Ein heißer Sommer. Stundenweise Treppen gestiegen sei sie. Damit die Wehen endlich einsetzten. Damit sie uns loswürde und in die Welt bringen könnte. Endlich ... nach Monaten. Schon frühzeitig war ich eine Last für sie. Mir sagte man, das sei normal in solchen Fällen. Zwillinge kommen eigen ins Leben.

Zur Geburt hat sich bei mir eine Legende entwickelt, in der seltsamen Mischung aus Wahrheit und Phantasie. Als das zweitgeborene Kind war ich von Anfang an verhindert gewesen. Dieses Gefühl kommt immer wieder hoch und offensichtlich daher, dass mein Bruder die Steißlage einnahm und mich - wortwörtlich - blockierte, mir im Wege lag. Ein Muster, dass mein Leben bestimmte. Es führte auch dazu, dass ich ihn immer wieder überholen wollte. Besser war, mich nicht einholen ließ.

Damals habe ich wohl all meine Kraft zusammen genommen und ihn dann „ins Leben getreten“. Das muß man heute hier und da noch mit ihm tun. Während ich die Kämpferin blieb, die für sich nicht mehr schaffen konnte, als da zu sein. Sich auf die Welt zu bringen.

Auch das ist eine ernüchterne Bilanz nach 47 Jahren Leben. Nichts Vorweisbares. Kein Job, keine Karriere. Noch nicht mal eine Rentenversorgung. Aber wenigstens ehrlich. "Es langt, wenn ich da bin!" - das wurde vor Jahren einer meiner Schlüsselsätze.

Nach einer gewissen Zeit der Erholung im Mutterleib kam ich ja auch zur Welt. Anders. Als zweites Kind. Manchmal denke ich, dass meine Mutter nur noch erschöpft war. Auch das zweite. Eine matte Freude samt unendlichem Glück, es nun hinter sich zu haben.


Natürlich entfalten solche Geburtsmythen im Leben ihre eigene Wirkung. Sie schreiben sich um mit den Jahren. Erzählen auch von Aufträgen, die man im Leben mitbekommen hat. Von den inneren Einstellungen, die schwer zu ändern sind. Die einfach da sind. Auch wenn man die Spurensuche beginnt.

Die Hebammenkunst eines Sokrates fand übrigens früh mein ungeteiltes Interesse. Was mich nicht überraschte. Es ist die Art und Weise, ja die Kunstfertigkeit, die Wahrheit oder Bestimmung eines Menschen durch fragendes Begleiten ans Licht zu bringen. Und als Junge geboren, konnte ich ja schlecht selbst gebären.

Sokrates war – nicht von ungefähr – auch ein Vorbild für eben jenen Kierkegaard, der mir später dann ans Herz wuchs und die Wende meines Lebens ermöglichte. Er behauptete, dass es neben der zwanghaften auch eine glückliche Wiederholung gäbe, und zwar eine nach vorne. So, dass man sich kopfüber in ein Abenteuer stürzen könne, ohne sich selber verloren zu gehen.

Das wurde mein Passierschein für die erneute Geburt. Dann als Frau. Dann noch mal neu. Und auch in einem Krankenhaus wie diesem hier. Immer mit der Hoffnung ausgestattet, dass ich nicht verloren gehen kann, sondern das Leben wieder finde. Dass man nicht nur einmal geboren wird, sondern immer wieder.

Was Wunder, dass Kierkegaard auch im Mai Geburtstag hat. Sie wissen oder ahnen schon wann? Genau, es war in diesem Fall auch der 5. Mai.


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