Donnerstag, März 12, 2009

Gestern sah ich sie wieder ...


Man kennt es: Aus den Augenwinkeln sieht man ein Bild, flüchtig bevor man den Blinker setzt und abbiegt. So ist es mir gestern ergangen, mal wieder und doch blieb dieses Bild länger - fast einen Moment still stehen.

Denn
Da war sie wieder.
Dieser Frau mit den grauen Haaren.
Der roten Wetterjacke und den Sportschuhen.

Ich hatte sie schon ein paar Mal gesehen, eher beiläufig aber dennoch. Was alles sieht man und sieht es doch nicht? Das Auge und unsere Wahrnehmung selektiert und das ist auch gut so, sonst könnten wir die Unmenge an Eindrücken nicht verarbeiten. Ein gut funktionierendes Gehirn zeichnet sich daher durch diese Leistung aus: Informationen so bereit zu stellen, dass sie zu verarbeiten sind. Das gilt für viele Phänomene.

Ein Klient bei mir zum Beispiel konnte das nicht leisten. Jedes Mal wenn er kam, konnte er mir aus dem Stand mindestens 15 Dinge nennen, die sich seit seinem letzten Besuch im Zimmer verändert hatten: "Die Kanne stand nicht da, die Tasse ist neu, das Bild auf dem Bilderhalter war anders, die Steine in der Schale wurden verändert .... " Unfassbar, wie schnell das alles in einem Blick zu sehen war. Und unfassbar auch, wie ungefiltert und klar er es erkennen konnte.

Anders herum: es gibt Wahrnehmungen und Gefühle, die wir verdrängen wollen. Die mit unliebsamen Gefühlen wie Schmerz, Trauer oder gar Schuld verbunden sind. Wobei Schuld kein wirkliches Gefühl ist, sondern eine Melange unterschiedlicher Prägungen und Einstellungen. Aber man verdrängt es sowieso und nimmt nicht mehr wahr.

In der Außenwelt geschieht das genau so: Wissen Sie noch, wen Sie heute morgen auf der Straße getroffen haben? Wer ihren Weg kreuzte, als Sie den Blinker gesetzt hatten? Nicht?

Nun, meine Erinnerung kehrt wieder und sie setzt wieder bei dieser Frau ein. Mit der roten Jacke. Den grauen langen Haaren und den Sportschuhen. Wie sie ihr Fahrrad über den Gehweg schob. Daran hingen unfassbar viele Plastiktüten. Ein Packesel, wie man ihn sonst nur aus der dritten Welt kennt.

Habseligkeiten - sagen wir dazu. Und das Wort klingt, wie es klingen muss. Die kleine Welt, in der wenig selig macht. Habselig, wie wir nun sind. Hier war es ein zusammen gesammeltes Leben in Plastiktüten an ein Damenfahrrad gebunden. Dazu die rote Jacke, die langen grauen Haare. Ein müder Blick, der nicht mehr Acht geben will und kann. Ein Weg ohne Ziel - irgendwohin.

Ein auftauchender Mensch - in einem Moment.

Alle Zuordnungen misslangen. Wohin und woher weigerte sich. Kein Ziel und keine Herkunft. Auf dem Weg, einfach da von rechts nach links. Ein kreuzender Mensch - der nicht einzuordnen war. Vielleicht sehen wir solche Menschen öfters, dachte ich noch. Vielleicht sind sie das, was die Kehrseite unseres Lebens beschreibt. Drop Outs, sagt man im Englischen dazu und doch sind und bleiben sie da - unsere Wege kreuzend. Erinnernd.

Wenn man die Augen und die Seele offen hält.

Ich persönlich mag diese Menschen. Nicht nur von ferne. Aber es tut mir gut, diesen Moment heute inne zu halten. Zu überlegen, ob ich sie wieder sehe. Ich glaube tatsächlich, es würde mich beruhigen. Innerlich sage ich dann: Schön, dass Du wieder da bist. Schön, Dich wieder zu sehen.

Und dann trennen sich die Wege wieder. Und doch bleibe ich berührt zurück. Sie wissen schon: die graue lange Haare, diese rote Jacke und Turnschuhe an einem mit Plastiktüten behängten Damenfahrrad. Das war sie.

Sollten Sie sie treffen,
seien Sie achtsam mit sich
und auch mit ihr.

Verdient habe es beide.






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P.S.: Eine Freundin sagte mir heute, dass im Englischen das Wort "Drop out" weniger geläufig sein und man von den "Down and Outs" spreche, was vielleicht besser passen mag, da diese Redewendung doch sehr an einen glaubhaften Prozess erinnert: den einer Presse zur Verschrottung von Fähigkeiten und menschlichem Leben .

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