Es ist merkwürdig. Da ruft mich heute ein Bestatter an und möchte, dass ich eine Traueransprache halte. Eigentlich nichts Befremdliches. Man verhandelt geschäftsmäßig über den Preis. "Ich kann andere Redner anrufen, die machen das für 250 Euro!". Ich habe keine Lust zu verhandeln. Sage lapidar: "Wenn es Sie interessiert, schicken Sie mir doch die Unterlagen per Fax!" Was einige Minuten später auch geschah. Immerhin muss man sich die Preise nicht auch noch kaputt machen lassen.
Dann rufe ich im Trauerhaus an. Lasse klingeln. Einmal, zweimal, mehrmals. Spät, sehr spät wenn ich fast nicht mehr damit rechne, kommt eine brüchige Stimme. Eine alte Frau. Eine Mutter. Die Mutter einer Tocher. Der einzigen. Die wir zu Grabe tragen.
Selten habe ich am Telefon so viel Zwischentöne bemerkt. Ich bleibe und mache damit mehr, als ich darf. Normalerweise verabreden wir uns zu einem Gespräch. Nun höre ich zu. "Das ist alles, was ich sagen kann!" Ein sich wiederholender Refrain. Immer wieder. Als wäre sie an ihrer Grenze. Als könne sie nicht weiter.
Ich warte. Einen Moment und danach noch einen. "Sie ist ganz friedlich eingeschlafen .... ja, ich habe sie da noch sitzen sehen .... nein, sie wollte auch nur noch alleine sein .... einfach keine Luft mehr bekommen ... wollte nicht mehr .... ich weiß gar nicht mehr zu sagen .... Polizei war auch noch da .... so friedlich ... ja meine einzige Tocher ... " Ich bietet ihr an, um 16 Uhr vorbei zu kommen. "Nein, das ist nicht nötig .... ich weiss sonst nichts mehr zu sagen .... nein, sie haben sie nicht mehr aufgeschnitten ... natürlicher Tod .... wie ihr Vater auch ...nein nein, machen Sie sich keine Umstände ... ja, wenn was ist ... nein, ich weiss auch nicht mehr weiter ... " Es gibt diese Pausen zwischen den Zeilen.
Ich beschließe, nicht zu fahren. Auch sie will in Ruhe gelassen werden. Auch sie kann nicht mehr weiter. Was soll ich bei ihr - mitten im Wohnzimmer, in dieser Wohnung, wo schon der Vater starb, - friedlich - und nun auch die einzige Tochter starb - friedlich - und nun dieser Mutter da sitzt, mit dem Telefonhörer in der Hand, eine fremde Frau im Ohr, die zuhört und nichts viel sagt, sondern nur: "Das muss schlimm sein für sie."
Als ich vom Einkaufen zurück kehre, zeigt mir mein Telefon, dass ich vier Anrufe hatte. Viermal dieselbe Nummer. Einmal Weinen und Schweigen. Danach noch mal Weinen. Dann dieselbe brüchige Stimme. "Hallo?" und aufgelegt. Dann noch einmal mit dem Mut, doch reden zu können. "Sie können ruhig vorbei kommen!" Und legt auf.
Seit dreizehn Minuten versuche ich, zurück zu rufen. Zu sagen: "Ich habe Ihren Anruf entgegen genommen. Ich komme gerne." Ich erreiche sie nicht.
Habe ich es jemals getan?
Ich buchstabiere:
76 Jahre.
Der Mann gestorben.
Vor sieben Jahren. Friedlich.
Zu Hause.
Die Tochter gestorben.
Vorgestern. Friedlich.
Zu Hause.
Nein, Sie brauchen nicht kommen.
Zum ersten Mal habe ich Angst, sie könne diesen friedlichen Tod nicht überlebt haben. Zum ersten Mal denke ich, das war nicht gut. Es war nah, dieses Gespräch. Wie an der Netzhaut des Lebens. Nicht viele Worte - dazwischen mehr als genug.
Ich rufe wieder an.
Bis ich dran bin.
Hoffentlich.
Dienstag, Juli 24, 2007
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Bewegende Geschichte, die ich - aufgrund eigener Erfahrung - nachempfinden kann. Voller eigener Konflikte. Und ein weiteres grauenvolles Beispiel aus einer Gesellschaft, die Nähe, Rituale, Menschlichkeit verlernt hat.
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