Donnerstag, Dezember 07, 2006

Unerwarteter Besuch

Vorgewarnt war ich ja schon. Meine Nachbarin hatte mich informiert, dass die Polizei neulich da war und nach mir gesucht hätte. Und das nicht nur einmal. Irritiert schaute ich herum. War ich zu schnell über die Ampel gefahren? Oder gar bei Rot? Welches Gebot hatte ich übertreten und überhaupt, warum rufen sie mich nicht an? Oder schicken einen Anhörungsbogen? Vielleicht handelt es sich um eine notwendige Zeugenaussage oder irgendwas mit meinen Klienten?

Natürlich rattern alle Phantasien durch den Kopf. Aber eine Antwort bekommt man dort nicht. Und so vergingen noch einmal vierzehn Tage, bis sie heute tatsächlich vor der Türe standen. Nun, es ist kein angenehmes Gefühl, wenn auf einmal zwei Polizisten vor der Türe stehen. Zum Glück war ich ja vorgewarnt und wusste, dass es nichts Akutes sein könnte. Würden sie sich sonst so viel Zeit lassen? Sicherlich nicht. Also konnte es sich nur um eine Zeugen oder sonstige Aussage handeln. Aber dazu hätte man mich ja auch schriftlich anhören können. Wie immer, wenn man ein Knöllchen oder ein Bußgeldbescheid bekam.

Rocco wedelte freundlich mit dem Schwanz als sie sagten, sie wären dienstlich verpflichtet, bei mir vorbei zu kommen. "Worum geht es denn?" fragte ich zurück. "Das können wir so hier an der Türe nicht sagen. Haben Sie denn etwas Zeit für uns?" "Hm", dachte ich. Und gleich noch mal "Hm" hinterher. Das schien eine ernste Angelegenheit zu werden. Also überlegte ich kurz. Ein Klient hatte sich angesagt, den ich eigentlich erwartet hatte. Und wie zwei Klienten sahen diese beiden ja nun nicht aus. Trotzdem bat ich sie rein.

"Kommen Sie für einen Moment, aber ich habe gleich eine Beratung!", sagte ich, um sie über das mögliche Erscheinen eines Gastes vorzubereiten. Wir gingen ins Wohnzimmer und ich bat sie, doch Platz zu nehmen. Verlegen setzten sie sich. "Also, worum geht es denn jetzt?"

"Ja, wir sind von Amts wegen bei Ihnen. Da gibt es ein Schreiben aus Düsseldorf und dem müssen wir nachgehen." Düsseldorf, da war doch was in der letzten Zeit. Ja klar, ich habe meinen Talar dort vor dem Landeskirchenamt niedergelegt. Sicherlich, aber das war doch eine angekündigte, öffentliche Aktion. Hätte ich dafür das Ordnungsamt fragen müssen? So ganz sicher ist man sich ja doch nicht.


"Ja bitte .... ?" fragte ich und war nun doch gespannt auf die Auflösung. "Nun, diese Aktion von Ihnen da ... Ich meine, das konnte man ja auch in der Presse nachlesen ..." Stimmt, dacht ich. Es gab einen guten Bericht in der Rheinischen Post; der Evangelische Pressedienst hat dagegen schlecht und zum Teil unwahr berichtet. Aber wie sollte er auch anders können? "Ja, das ist ja bekannt," sagte ich. "War irgendwas damit nicht in Ordnung?"

"Verstehen Sie uns recht, Frau Kammann. Wir müssen von Amts wegen der Geschichte nachgehen. Also das Landeskirchenamt hat uns da einen Brief von Ihnen übergeben. " Aha, dachte ich, von daher weht der Wind! Mein Brief an Oberkirchenrat D. fand jetzt Eingang in eine polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche Ermittlung. "Und das Landeskirchenamt sieht sich da bedroht und dem müssen wir natürlich nachgehen!" So welche sind das also. Was müssen die doch eine Angst vor Karin Kammann entwickelt haben. Wie tief muss sie das doch getroffen haben, dass da jemand seinen Gefühlen und seiner inneren Wut auch Worte gibt und verleiht. Und sich nicht scheut, dazu zu stehen.
"Ja, Sie schreiben da, dass sie mit einer Schrotflinte ins Landeskirchenamt gehen wollen." Nun lag der kopierte Brief an den Oberkirchenrat D. mit den gelb inkriminierten Stellen auf dem Tisch. Ein Beweismittel. Ein klassischer "corpus delikti". Der Anlass allen Übels. Eine Frechheit. Ein Drohbrief. Die Ankündigung eines Amoklaufes. Was auch immer. Der Zeigefinger des Polizisten ruhte auf dem gelb markierten Satz.

"Schauen Sie," sagte ich, "schauen Sie und lesen sie doch. Es handelt sich hier um die Schilderung eines Traumes." Ich zeigte auf den Text. "Ja, das sehen wir auch. Aber ... " "Mein Anwalt hat dazu auch schon explizit Stellung genommen." "Ja, ich glaube, das Schreiben ist dem beigeheftet," sagte der eine Beamte und begann in der umfangreichen Akte zu blättern.


Der andere rutschte etwas verlegen hin und her. Fast so, als wollten sie sich entschuldigten, dass sie überhaupt da waren. "Sehen Sie, da steht doch Traum und Phantasie. Und die wird man doch noch äußern dürfen in diesem Land? Also, worum geht es denn jetzt. Was wollen Sie von mir?"


Ja," begann der eine, "es ist so, wir müssen doch von Amts wegen dem nachgehen. Sie wissen ja ... " "Und nun ... ?" fragte ich. "Sehe ich so aus, dass ich Amok laufen würde und dann noch im Landeskirchenamt? Wissen sie, ich habe als eine der wenigen Frauen Zivildienst geleistet. In einem Ev. Krankenhaus den Wehrdienst verweigert Und das bewusst und absichtlich. Warum sollte sich daran etwas ändern? Und wenn Sie im Text weiter lesen, steht dort, das ich im Traum die Türen auftrete und dort auf menschen große Meerschweinchen treffe, die an überdimensionierten Schreibmaschinen sitzen. Gibt es die auch in Wirklichkeit? Und wenn ja, schießt man dann etwa darauf?"

"Nein das sicherlich nicht, Frau Kammann. Was wir glauben und wie wir das einschätzen, steht hier nicht zur Diskussion. Es ist nur, dass wir dem nachgehen müssen."


Aha, dachte ich. Aber wem wollen sie nun nachgehen? Meiner Geschichte der landeskirchlichen Heuchelei und der permanenten Vertröstungen, der uneingefüllten Versprechungen und der selbstherrlichen Arroganz, immer nur das Beste für mich gewollt zu haben. All diese einundzwanzig Jahre? Wohl kaum.

"Schauen Sie," sagte ich "das ist ein Traum und die Meerschweinchen dort im Text sind eine Metapher für die geballte menschliche Hilflosigkeit des Landeskirchenamtes, mit einem Menschen, der anders ist, adäquat umzugehen. Das Fazit ist einfach: Selbst für ein Wutszenario oder einen klassichen Amoklauf taugen diese Meerschweinchen nicht."

"Frau Kammann, darum geht es uns auch nicht," bekam ich als Antwort. Damit wusste ich zugleich, dass es nicht um die Exegese dieses Briefes gehen konnte. Wie auch, hier sass mir ja die Polizei gegenüber.
"Wir sind gehalten Sie zu fragen, ob Sie eine Schrotflinte besitzen."

Was?? Ich konnte es nicht glauben. Da schickt mir das Landeskirchenamt die Polizei nach Hause, um überprüfen zu lassen, ob ich eine Schrotflinte besitze? Unfassbar. Da wurde der Traum von denen flugs zur Realität gedrechselt. Eine Bedrohung geschaffen und aufgebaut. Schuldige benannt, die verhört werden müssen. Die hatten wirklich gedacht, dass ich eine solche Waffe besitze?

Wie armselig (= arm an Seele) muss ein solcher Verdacht doch wirken. Wie dumm und von wenig Menschenverstand. Eine Kirche, die ihre Pastorin im Ehrenamt des Amoklaufes verdächtigt, weil sie einen Traum und eine Phantasie schildert, in dem eine Schrotflinte vorkommt? Wie jämmerlich dumm und engherzig muss es dort zugehen, wo Menschen nicht mehr lesen können. Wo die Wahrnehmung sich verzerrt auf eine Bedrohung und man anderen nachstellen muss, um sich selber sicher zu fühlen? Da sind mir Meerschweinchen weitaus angenehmer.


"Nein," sagte ich lachend den beiden Beamten. "Eine Schrotflinte besitze ich nun wirklich nicht!" Dann stand ich auf und zeigte den Beamten die nicht vorhandene Waffe und sie überzeugten sich durch Augenschein, dass diese auch wirklich nicht vorhanden war. Was sie dann auch jederzeit bereit waren, anderen schriftlich zu testieren. "Somit wäre das geklärt!" sagte der eine, faltete die Akte zusammen, während der andere noch mal zu einer Entschuldigung ansetzte. "Lassen Sie es gut sein," unterbrach ich ihn. "Sie können ja nun wirklich nichts dafür."

Als sie zum Ausgang gingen, drehten sie sich um. "Entschuldigen Sie bitte abermals für die Unannehmlichkeit. Wir hoffen aber, das Vertrauen in Ihre Polizei haben sie dennoch nicht verloren." "Nein, das habe ich sicherlich nicht! Ich verstehe schon, dass Ihnen so etwas auch unangenehm ist." Als sie die Türe öffneten kam Rocco von oben runtergeflitzt, wedelte mit dem Schwanz und ich ließ ihn dann mit den beiden Beamten freudig nach draußen entkommen.
Aus dem Küchenfenster sah ich, wie der eine Beamten noch mit ihm spielte. Schön, dachte ich, wenn Hund und Mensch sich so vertragen.


P.S.: Wahrscheinlich wurde gleichzeitig das Landeskirchenamt mit einer Hundertschaft auf das Vorhandensein von menschen großen Meerschweinchen durchsucht. Kann sein, einige waren noch da.


Donnerstag, November 23, 2006

Der Trauer das Wort reden

Manchmal kommt es doch noch vor, dass ich Traueransprachen halte. Nicht für die Kirchenmitglieder, die haben ihre eigenen Pfarrer. Und die wiederum ihre eigenen Geschichten mit den Bestattern. Ich halte sie für grad mal für die, die aus der Kirche ausgetreten sind. Die keine Konfession haben oder haben müssen.

Für mich ist es eine alte und gute Übung, die ich gerne mache. Trauerreden haben mit Menschen zu tun, die verschwunden sind. Die nicht mehr greifbar sind, aber irgendwie doch noch da. Daher geht es bei dieser Arbeit auch um Präsenz und Wahrnehmung. Viele fragen mich dann ganz verwundert: Trauerreden - so was machst Du gerne? Ist das nicht zu traurig? Und ich sage: Nein, nicht unbedingt. Ganz im Gegenteil, es ist hoch interessant.

Gefordert wird man immer wieder durch den Anlass. Zu fast 99.8% kenne ich die Verstorbenen nicht. Ich bespreche somit Menschen, die ich nicht kennen gelernt habe, deren Lebendigkeit sich mir entzieht und deren Berichte vom Leben mir nur aus zweiter Hand zu kommen. Filtergeschichten sozusagen, niemals unmittelbar. Nie gibt es einen direkter Eindruck. Eine Begegnung ist ausgeschlossen.

So fertige ich Reden für die, deren Eindruck sich nur nach dem Verschwinden öffnet, deren Existenz nur noch aus den Rändern des Vermissens, des Fehlens sich rekonstruieren lassen kann. Es ist tatsächlich eine Unbekannte ohne Gleichung in der Zeit. Eien akribische Arbeit mit Menschen, die anfangen zu trauern. Ganz im Hier und Jetzt.

Die Herausforderung jeder Rede ist es, den Verstorbenen vor den Augen der Trauernden wieder lebendig werden zu lassen. Ihn oder sie so ansichtig zu machen, das ein Erkennen sich vollzieht. Ein Wiedersehen als Abschied. Das ist für die die Grundherausforderung: Dass ich einem Menschen potraitiere. Als Schraffur, nie ganz erschöpfend. Es ist zugleich der Akt, einen Menschen in einer letzten, öffentliche Sprachhandlung sie zu würdigen. Seiner letzten.

Erst über die Ränder einer Existenz hinaus entsteht der Eindruck einer Person. Aus den Gesprächen, die man mit den Hinterbliebenden führt. Manchmal auch aus Bilder, die man einsehen kann. Aber immer noch aus diesem Echo der Seele, das mir in den Gesprächen entgegen kommt. Aus dem, was jetzt fehlt und gestern noch da war. Ein echtes Inter-esse, Dazwischen Sein.

Manchmal muss man detektivisch unterwegs sein. Sehr genau hinhören auf die Zwischentöne; es aushalten und nicht mit vorschnellen Schablonen hantieren, bis sich ein erstes Bild eines Menschen sich zusammen setzt. Manchmal ist es auch nur ein Fragment, eine kleine Besonderheit wie die, dass ein Selbstmord in Mülheim Ruhr noch nicht mal in der Zeitung berichtet wurde. Vergessen bis über den Tod hinaus ... das war der Schlüssel, um eine Person in ihrer Tat zu verstehen. Sie zu würdigen und in der Ansprache die Nachricht nach zu liefern, die die Zeitung nicht bringen wollte.

Immer findet sich, was mich berührt. Und so lange bleibe ich auch im Gespräch. Bis bei mir der Eindruck wächst, ich kann etwas sagen. So lange sitze ich da als eine Fremde in einer Familie oder auch mitten drin, umgeben von fremden Menschen, die mir Geschichten erzählen, um die ich sie nicht gebeten habe. Eine merkwürdige Situation ist das, schnell vertraut und nah.

Das zu leisten ist nicht einfach und das wieder umzusetzen in Worte ist oft eine Herausforderung, der man gewachsen sein muss. Gehört habe ich schon, dass man inzwischen auch Trauerreden zum Discount-Preis bekommen kann. Für 100 Euro eine Auflistung der Lebensdaten. Von Geburt bis Ausgang. Wie eine beigelegter Lebenslauf bei einer Bewerbung über den Tod hinaus. Herunter gelesen wie eine Agenda oder die Aufstellung einer Fußballmannschaft. Morgen spielt ihr wieder weiter ...

Hier am Niederrhein haben wir inzwischen bis zu dreizehn Trauerredner, die sich um diese Arbeit bemühen. Das ist viel und es wird weiter zunehmen. Zu finden sind pensionierte Lehrer ebenso wie ein Krankenpfleger, der in der Nachtschicht sich vorbereitet. Auch eine Kunsttherapeutin, die dann Werbung für ausdruckstarkte Trauerkurse betreibt, sowie viele andere tummeln sich da.

Das Berufsbild des Trauerredners ist nicht beschrieben. Es ist gut so, weil nun viele unterschiedliche Berufe sich dort zusammen finden, eben auch die entlaufene Pastorin, wie ich es bin.

Unerträglich wird eine Ansprache, wenn sie Distanz nicht wahren kann. Wenn der Redner selber sich als Betroffener ausgibt, ohne es zu sein. Solches habe ich einmal bei einem Pfarrer erlebt und es war ein theaterreifer Mimikry, der sich da abspielte. Sicherlich überzeugend, aber das Grundgebot der Trauerrede aufs Schlimmste missachtend. Und das heißt: Du musst den Menschen ihre Gefühle lassen. Er nahm mit seiner Inszenierung den Trauernden die Gefühle. Er war der Trauernde und nicht mehr die Angehörigen. Und das sollte niemals geschehen. Also merke: eine gute Trauerrede erkennt man daran, dass die erste Reihe weint. Wenn nicht, so sage ich immer, habe ich etwas falsch gemacht.

Denn der Unterschied bleibt heilsam. Ich bin nicht von diesem Tod betroffen. Ich bin nicht Trauernde. Deswegen kann ich reden - stellvertretend für die, die es jetzt, in diesem Moment nicht mehr können. Denen der Tod die Sprache verschlagen hat. Die Trauerrede ist und bleibt stets ein stellvertretendes Tun. Ein dienendes. Wer das missachtet, begreift nichts von seiner Aufgabe.

Sicherlich gibt es auch Verunsicherungen. So wie bei meinem letzten Auftrag. Da hieß es: Passen Sie auf, Frau Kammann. Bei der Familie sind noch Rechnungen offen. Nehmen Sie besser Vorkasse. Und das tat ich, als ich die Mutter und Oma zum Urnengrab begleitete. Auf die Anmietung der Trauerhalle hatte man schon verzichtet; verständlich sogar, wenn man bedenkt das das teurer sein soll als meine Ansprache selber. Die Urne mit der Oma wollte man allerdings dann doch nicht ohne ein paar Worte selbst in die Erde versenken. Also kam ich dran.

Während man mir also diskret den Umschlag mit meinem Honorar zusteckte, wartete um die Ecke eine kleine, bescheidene Trauergemeinde. Familie vertraulich dekliniert. Gerade mal acht Personen. Dazwischen und besonders auffällig zwei Jugendliche. Schwarze Springerstiefel. Schwarze Jeans. Schwarze Bomberjacke. Kahle Schädel mit einer Tätowierung. Oh Mann, dachte ich. Genau die, denen ich niemals begegnen wollte. Nun standen sie in stattlicher Größe vor mir. Einer trug die Urne in der Hand.


Was sollte ich anders tun als das, was ich immer tat?

Also ging ich mit, schweigend Schritt für Schritt. In meinem Kopf sammelten sich die Phantasien. Liefen voll, liefen über ... keine Antwort auf alle Fragen. Als wir ans Grab kamen, stellten sie die Urne ab. Ich öffnete meine Ansprache und las tapfer daraus vor. Satz für Satz langsam, nur nicht zu schnell. Das sie meine Angst nicht merken. Denn noch bin ich nicht auf der Flucht.

Als ich durch kam und bis ans Ende, dort wo auch ich bete - wenn gewünscht - und noch einmal das Leben ausspanne zwischen Schuld und Vergebung, schaute ich kurz hoch. Die beiden direkt an. Ich mochte es nicht glauben. Dicke Tränen rollten über geröteten Wangen. Ja, der größte Feind sitzt immer innen. Die Gefühle, die man sonst nicht zeigen darf. Und der innere Feind war diesmal nicht zu besiegen. Gut so. Die Urne wurde in die Erde gesenkt und für einen Augenblick schien friedlich die Sonne auf alle Versammelten. Das letzte gute Werk der Oma, dachte ich noch und trat dann zwei Schritte zurück.



Montag, November 20, 2006

Wenn alles Leben zählt. Oder sag mir: Was kommt nach dem Tod?


NachdemTod
kommt VordemTod.

Und VordemTod kommt Töten.
Und VordemTöten kommt die Angst.

Die Angst
all derer, die ihren Tod nicht empfangen haben.
Sie wurden gekillt, getötet, geschlachtet im Namen der Menschlichkeit.
In einem Augenblick.

Müssig zu sagen was nach dem Tod kommt
wenn nicht vor dem Tod das Leben
ist und bleibt
und kommt

Mich empört die Kultur des Todes,

die Interessen durchsetzt
auf Kosten anderer

die Macht installiert
ohne Rücksicht auf Verluste

die Menschen entleibt
und anhängig macht

die Armut produziert
und in Seelen eingraviert

die Gewinne einfährt
aber nur für sich

die Soldaten installiert
statt eigenem Mut

Nach dem Tod ist
immer vor dem Tod
und Leben lohnt sich
immer wieder
noch
vor
dem
Tod
an sich.

Erst danach
werden wir schweigen

Auch für uns und alle
anderen
stille sein
anundfürsich

Verwandelt im
Augenblick.

Doch
erst danach.

Erst
NachdemvordemTod

wenn alles Leben zählt.



Freitag, November 17, 2006

Zugänge schaffen oder: Bram ist schuld

Selten ist es schon, dass ein Klient über hundert Kilomenter unter die Räder nimmt, um in einem kleinen Dorf am Niederrhein eine Praxis für Coaching und Lebensberatung aufzusuchen.

Anfangs, so sagte er mir, fiel es ihm trotz Navigationsgerät nicht einfach, mich zu finden. Wo ist das denn auch, der Kuhdyck? Und wie kann eine Straße so heißen? Kuhdeich? Wir sind doch hier nicht am Meer. Oder? Das ist doch finsterste Provinz. Nicht wahr?

Nicht ahnend kam er meinen Phantasien damit sehr weit entgegen. Denn genau das möchte ich. Abseits sein. Irgendwo in der Provinz sitzen. Nicht offensichtlich im umtriebigen Düsseldorf. Nicht im schnellen Köln. Erst recht nicht mittendrin. Sondern irgendwo an der Seite. Man muss sich aufmachen zu mir. Man sollte etwas unternehmen, um da zu sein.

"Das große weiße Haus da" sagte er, "das ist es, dachte ich. Das sah so nach Institut aus." Es stimmt, da gibt es ein weißes Haus. Und das sieht nach Institut aus, aber drin wohnt nur der Leiter des hiesigen Betriebshofes. Seine Wohnung spiegelt seine Wichtigkeit, gerade dann, wenn es die Person nicht kann.

"Nein", sagte ich freundlich "das war es wohl nicht." "Na ja, ich bin dann die ganze Straße runter gelaufen. Und dann sah ich es. Dort wor die großen Bäume noch stehen. Etwas im Schatten." sagte er, als er sich die Jacke im Flur auszog und wir Schritt für Schritt nach oben gingen.

"Das war ja nicht zu übersehen und trotzdem tat ich es." Der Weg zu mir ist einfach zu finden und ist es auch nicht. Es gibt keine eindeutigen Hinweisschilder, in nicht allen Navigationskarten ist diese kleine Privatstraße verzeichnet. Und die Erwartung wird enttäuscht und daher sieht man es nicht.

"Da war dann nur dieses große Schild KARTOFFELN. Und darüber meinte ich ein Zeichen gesehen zu haben, das ich auf ihrer Homepage schon mal gesehen habe. Also blieb ich da stehen. Und siehe da, ich war richtig. Hätte ich ja nie gedacht."


Es stimmt. Hier gibt es ein Schild mit "Kartoffeln". Es ist der alte Bauernhof des Bauern Strucks, der nun in einer neu gebauten Landschaft von Eigenheimen eingebettet ist. Kaum mehr erkennbar. Kaum mehr wahrnehmbar. Ein Haus unter anderen. Wäre da nicht diese Einfahrt und die laute Stimmer der Nachbarin.

Bauer Strucks ist unser Nachbar. Und seine Frau auch. Damals, als dieser Hof noch stand und in Betrieb war, gab es kein Handy. Als das Essen fertig war, rief man, dass die Männer vom Feld kommen mussten. Heute unterbricht sie schon mal meine Beratungen, laut und deutlich. Und verkauft Kartoffeln nebenan. Für viele die noch zu ihr kommen über Jahre und Jahrzehnte, ist das Schild "Kartoffeln" die einzige Erinnerung daran.

Mein Klient nun fand vor: "Kartoffeln" und "Praxis für Lebensberatung". Und staunte und amüsierte sich, den Weg nicht gefunden zu haben, wo doch diese beiden "essentiellen" Dinge so nah beieinander standen. Fast auf ein und demselben Schild. "Bram ist es schuld ..." sagte er dann lächelnd und meinte seinen Personalberater und Headhunter, der ihn zu mir schickte, weil doch mit seinem Kommunikationsverhalten etwas nicht stimme.

Armer Bram, der nicht wissen konnte, dass das Land auf merkwürdige Weise Dinge in sich vereinen kann. Widersprüche und Gegensätze gelten lässt, wo andere sie auseinander reißen müssen. Kartoffel und Coaching auf ein und demselben Schild. Undenkbar für eine gut aufgeräumte Dienstleistungslandschaft in Düsseldorf, wo die Adresse über Mileu und Klientenstamm entscheidet. Wo Erwartungen bedient und gesteigert werden müssen, statt einfach da zu sein. Im Hier und Jetzt und sei es bei Kartoffeln und Coaching.

Bauer Strucks hatte entschieden, die Zeiten mit zu gehen. Und er ließ Schweine Schweine sein, brach die Ställe ab und setzte Häuser hin. Lud andere Menschen ein auf seiner alten Scholle zu wohnen, gab seinen Beruf und seinen Hof an den ältesten Sohn weiter, der mit dem Geld einen modernen Hof außerhalb baute, ein sog. Aussiedlerhof. Noch heute streichelt er Rocco, als sei er der neue Hofhund und füttert ihn weit über Gebühr.


Durch das Vergangene, was heute noch da ist, fand mein Klient seinen Weg. Zwischen den alten Kirschbäumen und der Einfahrt hindurch in das neue Haus, das dort steht, wo früher die Kuhställe standen. Kuhdyck. Da ist jetzt die Praxis für Coaching und Lebensberatung. Die elementaren Dinge sind den Menschen erhalten geblieben. Und nach über hundert Kilometern Fahrt an den Niederrhein kam er an und freute sich, gefunden zu haben, was er nicht erwartete.

Einen Mensch ohne Allüren. Eine Situation, die sich elementar dem Not-wendigen verpflichtet fühlte. Eine offene Situation, die einlud. Die sich nicht anbiedern musste mit Attributen des Erfolgs. Statt dessen gibt es einen grünen Tee bei mir, ausnahmslos für alle Besucher, den man in Händen halten kann. Statt dessen gibt es kleine Münzen, statt große Erlösungen. Eine authentisches Gegenüber samt Hund, der es ernst meint.

Wie gesagt, das war schon immer mein Traum. Dass Menschen zu mir kommen, von weit her. Dass sie überrascht sind und schätzen, was sie vorfinden. Dass sie wieder kommen, weil sie etwas mitnehmen. Für viele sind das auch die Kartoffeln.

Aber nicht nur ...




Freitag, November 10, 2006

Altersweitsicht

"Faster Pussycat, fast fast ...
Oder: Lob des Fortschritts im Alter
"
>


... und hier mal wieder jemand, der es zu eilig hat. Kann sein, wir können alle noch lernen von denen, die tun - was sie tun. Und ihrem Denken und Fühlen freien Lauf lassen.


McKinsey grüsst Gott

An den Niederrhein sind wir gezogen, um schiedlich friedlich hier zu leben. Ohne Kontakt zur Kirchengemeinde und einfach mal nur in Frieden. Solange mein Versteck in Wachtendonk vom Landeskirchenamt unentdeckt blieb, konnte ich ja die Sache mit den Ordinationsrechten erst Mal auf sich beruhen lassen. Zumal Oberkirchenrat D. mich hier schon früh besucht hatte und zugleich sich der eigenen Hilflosigkeit versicherte dergestalt, dass er nichts tun könne. Also; wenn die Kirche es wissen wollte, wusste sie, wo ich war. Sie wollte es nicht.

Ruhe, das war genau das, was ich wollte von meiner Kirche. Hier und jetzt. Aber es sollte anders kommen, dazu später. Zunächst schien sich meine Erwartung zu bestätigen.


Ein Blick in den Gemeindebrief zeigte mir, dass es hier gemächlich zuging. Drei Pfarrer teilen sich in der zusammen gelegten Gemeinde "Straelen - Herongen - Wachtendonk" den Gottes- und Predigtdienst und zwar so, dass drei Gottesdienste pro Wochenende für die drei Gemeinden gehalten werden von je einem der Pfarrer, von denen zweie sogar eine Frau sind. Immerhin. In summa predigt also jede pfarrbeamtete Person wohl einmal in drei Wochen. Das ist sicherlich nicht zu viel verlangt.

Sie können es sich etwa auch so vorstellen: die Pfarrerin oder der Pfarrer fertigt einmal im Monat eine Predigt an, die er oder sie dann dreimal in den drei unterschiedlichen Kirchen hält. Betriebswirtschaftlich ist das genial, was man bei Beamten fast gar nicht erwarten sollte. Effizienter hätte das auch eine Unternehmensberatung wie McKinsey nicht hinbekommen. Es ist die finale Einführung des Kopierverfahrens - CopyPaste - in die Kirchenlandschaft. Eine Predigt dreimal gehalten, ist Effizienz in Reinform.

Gleichzeitig werden auch zusätzliche Evangelische Werte geschaffen, sog. "ValueAdds". Alle Gottesdienstbesucher in allen Gottesdiensten in allen Gemeinden hören ja jetzt dasselbe, was der Gleichheit aller Predigt Hörenden nur zuträglich ist. Schrieb nicht schon Paulus, dass wir alle gleich seien?


Im Ernst: Wo kämen wir denn hin, wenn auf den Kanzeln Unterschiedliches gepredigt würde? Das könnte die Gemeinde doch nur verwirren. Es könnte sie zum Denken reizen, sogar zum Vergleichen der unterschiedlichen Predigten und was dann los ist, kann man sich vorstellen. Es gäbe Präferenzen und sogar Konflikte unter den Pfarrern um die Zuneigung der Gottesdienstbesucher. Das geht doch nun wirklich nicht.

Also erfand man diese Lösung und schaffte damit gleich zweimal beste Ergebnisse dank überlegter Rationalisierung. Das ist "Best Practise" in Reinform. Genial dekliniert. 1. Gleichheit unter den Gemeinden bei 2. völlig gleich-gültiger Einstellung der Pfarrer.

Hinzu kommt eine weitere Neuerung. Das sog. rollierende Gottesdienstzeitensystem. Denn alle drei Monate wechseln die Gottesdienstzeiten vor Ort. Es gibt also dreimal Gottesdienste von einem der drei Pfarrer der drei zusammengelegten Gemeinden, die dann in ihren Gottesdienstzeiten alle drei Monate wechseln. Da muss man erst mal drauf kommen.

Wenn man sich z.B. endlich mal dazu durch gerungen hat, doch mal zum hiesigen Gottesdienst zu gehen, um die Gemeinde oder den Pfarrer kennen zu lernen, ist man sich nie wirklich sicher, wann dieser denn jetzt stattfindet. Ist es am Samstag um 18 Uhr? Oder hat die Gottesdienstzeit schon wieder gewechselt - vielleicht auf Sonntag 11 Uhr? Dann könnte man es sich vielleicht noch mal überlegen. Nach dem Gassigehen mit dem Hund und einem ausgiebigem Frühstück eine Predigt genießen? Warum nicht? Oder halt - ist jetzt schon wieder der frühe Sonntagsturnus dran, der um 9 Uhr beginnt? So früh schaffen wir das nie, bestimmt nicht. Kurzum: Wann Gottesdienst ist, weiß man so genau nicht. Es gibt ja keine festen Zeiten. Das ist auch gut so.


Zugleich wird so ja verhindert, dass der Gottesdienst unerwünschten Zulauf bekommt. Wo kämen wir denn hin, wenn da jeder kommen könnte? Nein, hier muss man erst eine Vorleistung erbringen, mit der man eindeutig seinen Wunsch auf Gottesdienst dokumentiert. Entweder fragt man nach, dann kann sich die Gemeinde schon mal darauf einstellen, wer da kommt und wie man ihn behandelt. Oder man macht die Extra Runde zum Schaukasten der Gemeinde an der Kirche, dort - wo die Gottesdienstzeiten ja angeschlagen sein sollten.

Ja, Sie lesen richtig: Sollten.


So Kästen will man ja auch nicht alle drei Monate neu gestalten. Und weil das auch viel Aufwand für einen Pfarrer wäre, hat man da wohl gleich den ganzen Jahresplan reingehängt. Zumdinest damals, als wird dort vorbei gingen. Und der ist so geschrieben wie nebenan der Fahrplan der Busgesellschaft. Man versteht ihn einfach nicht. Alternativ kann man noch die hiesige Zeitung bestellen, wo die Gottesdienstzeit Samstag abgedruckt sein soll, es aber auch nicht war. Denn Wachtendonk gehört verwaltungsrechtlich zum Kreis Kleve, kirchenrechtlich aber zum Kirchenkreis Krefeld Viersen. Und die Gottesdienstermine in Wachtendonk suchten wir damals vergeblich in der Zeitung. Es wäre ja auch umständlich, wenn man diese der Zeitung extra mitteilen würde.


Aber zurück zum rolliernden System. Das Bedürfnis der Gemeinden nach Gleichheit hat einen gesunden Kompromiss mit dem gleich-gültigen Bedürfnis der Pastoren auf gleichberechtigte Wochenendfreizeit geschlossen. Ein besseres Ergebnis hätte selbst in Tarifverhandlungen nicht erzielt werden können. Nun ist es ein fairer Interessenausgleich entstanden: Die Pfarrer möchten ja nicht jeden Sonntag predigen, was man beim lebenslänglichen Beamtengehalt einfach auch mal verstehen muss. Und bei den Gemeinden möchte auch keine zu kurz kommen. Da will man den Gottesdienst vor Ort doch nicht für immer und ewig auf einen Termin fest legen. Oder?

Stellen Sie sich das vor: Gottesdienst in Wachtendonk wäre nur und ausschließlich am Samstag abend.
Was würden sie denken? Genau: Wachtendonk ist der Appendix der zusammen gelegten Kirchengemeinde. Das wäre so, wie man Gottesdienste in den Altersheimen ja auch um diese Zeit abhielt, früher als man sie noch machte. Die fanden ja auch meistens am Samstag um 18 Uhr statt. Mit Kerzen und zitternden Händen. Schlabberlätzchen und Rollstühlen. Das will man sich doch als erwachsene Kirchengemeinde doch nicht antun. Für drei Monate vielleicht, aber dann muss unbedingt gewechselt werden.Wo kämen wir denn sonst hin?

Daher war es nur klug , das rollierende System einzuführen. Damit alle mal dran sind. Und keiner sich über den anderen erheben kann. Und so wechselt nun alle drei Monate die Gottesdienstzeit vor Ort. Besser, so sag ich mal, hätte es auch ein Beraterstab einer Unternehmensberatung nicht hinbekommen können. Man erfand der Not gehorchend nun die wechselnde Gottesdienstzeiten, die auf Gleichberechtigung unter den Gemeinden achten.


Was jetzt entstanden ist, ist eine Lösung, die den optimalen Kompromiss zwischen der Denk- und Predigtmüdigkeit samt dem gebotenen ethischen Imperativ der Gleichbehandlung aller beteiligten Gemeinden vereinbart. Das ist genial und verdient Anerkennung.

Der nächste Schritt scheint nun schon vorprogrammiert. Demnächst werden an alle Evangelischen Haushalte aufblasbare Gottesdienstbesucher verteilt. Dann ist die Kirche immer voll und man kann guten Gewissens zu Hause bleiben. Die Kirchensteuern werden ja eh maschinell abgebucht.

Und allen geht es gut: den drei Gemeinden, den drei Pfarrern und auch uns dreien, die wir für immer zu Hause bleiben.

Oder etwa nicht?


P.S.: Übrigens sollte es später die Gemeinde werden, die mir in der Begründung der Verweigerung, mich zum Erhalt meiner Ordinationsrechte dort predigen zu lassen, anführen sollte, dass ich mich nicht wirklich bemüht hätte, Kontakt mit der Gemeinde aufzunehmen. Docta ignorantia. Aber davon sicher ein anderes Mal.

Mittwoch, November 08, 2006

Segenswünsche

Geh´ deinen Weg ruhig - mitten in Lärm und Hast,
und wisse, welchen Frieden die Stille schenken mag.
Steh´ mit allen auf gutem Fuße, wenn es geht,
aber gib dich selbst nicht auf dabei.

Sage deine Wahrheit immer ruhig und klar
und höre die anderen auch an,
selbst die Unwissenden, Dummen -
sie haben auch ihre Geschichte.

Erfreue dich an deinen Erfolgen und Plänen.
Strebe wohl danach weiterzukommen,
doch bleibe dennoch bescheiden.

Sei du selbst - vor allem:
heuchle keine Zuneigung, wo du sie nicht spürst.
Doch denke nicht verächtlich von der Liebe,
wo sie dich wieder regt.

Nimm den Ratschluss deiner Jahre
mit Freundlichkeit an.
Und gib deine Jugend mit Anmut zurück,
wenn sie endet.

Pflege die Kräfte deines Gemüts,
damit es dich schützen kann,
wenn Unglück dich trifft,
aber überfordere dich nicht
durch Wunschträume.

Viele Ängste entstehen
durch Enttäuschung und Verlorenheit.
Erwarte eine heilsame Selbstbeherrschung von dir.
Im übrigen aber sei freundlich und sanft zu dir selbst.

Du bist ein Kind der Schöpfung,
nicht weniger wie die Bäume und Sterne es sind.
Du hast ein Recht hier zu sein.
Und ob du es merkst oder nicht -
ohne Zweifel entfaltet sich die Schöpfung so,
wie sie es soll. So wie Du bist.

Bleibe Dir nah.

Lebe in Frieden mit Gott,
wie du ihn jetzt für dich begreifst.

Und was auch immer deine Mühen und Träume
sind in der lärmenden Verwirrung des Lebens -
halte Frieden mit deiner eigenen Seele.




Brosamen I

Die Hypnose der Kirche, ihr eigener Schlaf ist selbst gemacht. Es hängt mit der selbst hergestellten Binnenwahrheit zusammen. Das Evangelische Bekenntnis ist und bleibt das zum Kirchenbeamtentum. Darin gleichen sie sich auf fataler Weise den sich bereichernden Vorständen in den Konzernen. Man sitzt sich aus, schimpft mit der Welt und wird mit steigenden Einkünften belohnt.

Wer am längsten durchhält, gewinnt.
Und zwar mehr als verdient.


Ein großer Stern wird in meinen Schoß fallen ...

----- Original Message -----
From: 'Helga Kammann'
Sent: Tuesday, November 07, 2006 8:08 AM
Subject: AW: Geburtstag

Du bist kein schrecklicher doch sehr lieber Mensch..
Lass Dich drücken, das brauchst du !

Mutsch



So schrieb heute morgen meine Mutter und ich bekam, als ich es las, Tränen in die Augen. Es war nie einfach zwischen uns und meine Mutter hat sich wirklich viel Mühe gegeben, mich meines Weges zu vergewissern. Einfach gemacht hat sie es mir nie.

Früher im Predigerseminar zu Essen wurde ich schon mal gefragt: "Sag mal Karin, Du kannst so viele Menschen so gut verstehen. Gibt es denn auch jemanden, wo das nicht so klappt!" Und ich antwortete wie aus der Pistole geschossen: "Meine Mutter!"

Es ist ja auch ungewohnt und schwer, ohne Mutter Frau zu werden. Ganz anders als andere. Später und zur Unzeit hinzu zu kommen. So wie Paulus ja auch ein spät berufener Apostel wurde. Einer, der die eigentlichen Zugangskriterien nie erfüllt hatte und ohne den der Sprung des Evangeliums in eine neue Welt nicht gelang. Eigentlich ist auch ein Paulus so ein Trans-Apostel. Heute würde er keine Stelle bekommen. Keine Chance haben. Man bleibt unter sich.

Es ist und war ungewohnt und schwer, sich in diesen Wechseln allein zurecht zu finden. Gerade dann, wenn man Begleitung braucht. Meine Mutter war nicht da. Sie schrieb damals an die Ärztekammer und zeigte meine behandelnde Ärztin an, dass sie mich mit weiblichen Hormonen behandeln würde. Nein, einfach gemacht hat sie es mir nie. Und ich musste zurück dorthin schreiben, dass ich schon 18 sei und es wohl auch ein Gesetz gebe und überhaupt ...

Heute rühren mich ihre Worte, die so pur und schlicht und einfach kommen, zu Tränen. Es ist wie eine lang erhoffte Versöhnung, der Wunsch einander in die Arme zu nehmen, Leid zu tragen und da zu sein. Nicht glücklicher als man ist, nicht trauriger als man ist. Mit meiner Mutter galt mir das lange Zeit als unmöglich.

Aber es gibt ja in jedem Leben diese Momente. Als mein Vater starb, als mir klar wurde, dass er geht und uns verlässt, da saß ich auch einen Moment mit ihm allein in der Küche. Und wir schauten uns an. Er war kein Mensch, der reden konnte. Weder über sich noch über das, was in ihm vorging. Und doch sah man in seinen Augen alles, was da war. Und nach langem Schweigen, irgendwann sagte ich: "Wir sind so lange Wege gegangen. Was? Du hast erst Krebs bekommen müssen und ich musste erst Frau werden, bevor wir uns sagen konnten, dass wir uns sehr lieb haben." Und seine Augen füllten sich mit Tränen wie die meinen auch und er nickte stumm und dann stand er auf und wir umarmten uns.

Es gibt in jedem Leben diese Momente und man muss achtsam sein, sie nicht zu verpassen. Bereit auch, sich selber noch mal los zu lassen: mitten in diese Gefühle, mitten in diese einfachen Sätze, die da so überschlagen wie Wellen. Einfach da sein. Es tut so unendlich gut. Es ist das Echo, das weiter leben lässt. Das Mut schenkt, wenn dieser gerade auszugehen droht.

"Wir sind Nichtschwimmer im See unserer Gefühle geworden", das sagte ich mal in einer Predigt in Mülheim Ruhr und nun stehe ich selber da, überwältigt und auf dem falschen Fuß erwischt von dieser Mail. Es ist gut und hilfreich - seit langer Zeit. Und stimmt eine Versöhnung an, die uns beiden hoffentlich lebbar ist und bleibt. Ja, ich habe sie lieb, diese Mutter.

Kein Wunder, dass meine erste Klientin in meiner Praxis hier in Wachtendonk auch eine Mutter war, deren Kind konvertierte und das Geschlecht wechselte. Von Frau zu Mann. Kein Wunder auch, dass ich mich lange Zeit umtrieb auf der Suche nach einer Ersatz- und Reveremutter, da die meine ja ausfiel. Wie ich dachte. So traf ich Brigitte und so fand ich auch früh Else Lasker-Schüler im Wuppertal, ein lyrisches "enfant terrible" und doch von so zarter und einprägsamer Sprachschönheit, zerbrechlich geradezu. Sie habe ich nie verloren, auch im Cafe Odeon in Zürich nicht. Ihr Pulsschlag begleitete mich durch alle Wechsel hindurch, sehr zuverlässig und nah, selbst bis nach New York in die jüdische Gemeinde, wo ich mich wohl fühlte nach langer Zeit, da ich mit Gott stritt aber mit der Thora tanzte.

1986 war es. Am Weihnachtsmarkt zu Schloss Lüntenbeck. Da kaufte ich dieses eine Buch, nachdem ich es drei mal ansehen musste. Es stehen dort wundersame Gedichte, wie Proviant in nötiger Zeit. Dort las ich:


Es wird ein großer Stern in meinen Schoss fallen
Wir wollen wachen die Nacht.

In Sprachen beten,
Die wie Harfen eingeschnitten sind.

Wir wollen uns versöhnen die Nacht -
So viel Gott strömt über.

Kinder sind unsere herzen.
Die möchten ruhen müdesüß.

Und unsere Lippen wollen uns küssen,
Was zagst Du?

Grenzt nicht mein Herz an dein -
Immer färbt dein Blut meine Wangen rot.

Wir wollen uns versöhnen die Nacht,
wenn wir uns herzen, sterben wir nicht.

Es wird ein großer Stern in meinen Schoß fallen.


Versöhnung





Montag, November 06, 2006

Schalltote Räume und andere Unannehmlichkeiten

Noch immer rumort es in mir. Wie ein lang anhaltendes, inneres Beben. Eine tektonische Verschiebungen der Seelenlage. Nur an Spannungen erkennbar. Und dumpfen Geräuschen. Es tut sich wass.

Und wenn ich dann nicht schreiben kann, toben Kämpfe nachts in Herz und Hirn. Sich endlos wiederholende Situationen. Als würde auf einmal mit einem Schub die Gefühle nachgeliefert. Wie ein Erwachen aus dumpfer Zeit.

Heute war es ein tiefe Entsetzen vor der Leere, dass ich wirklich mit leeren Händen da stehe. Dass ich nach 21 Jahren "Kirche" gerade mal mich und um die 310 Euro Rentenanspruch gerettet habe. Kein Grund getrost zu sein.

Das Entsetzen darüber, dass da einfach NICHTS ist, wo etwas sein sollte. Dort, wo ich Kirche vermutet hatte, ist ein NICHTS. Ein Loch, ein Off, ein schalltoter Raum. Eine Kompression ohne Gleichen. Kein Echo möglich.

Als ich heute Morgen mit Rocco spazieren ging, nach dieser halb durchwachten Nacht mit dem pochenden Herzen, das sich nicht zur Ruhe legen kann, dass weiter schlägt und arbeitet wie ein Bildhauer, da begann ich drei Sätze zu finden, die mein Fühlen der Kirche gegenüber beschreiben könnte.

Sie sind Deklinationen des Menschlichen und heissen:

1. Schalltoter Raum
Das abgebrochene Gespräch oder der Verlust der ersten Unmittelbarkeit. Was wiederfährt, wenn ein Mensch sich verändert. Über alles durfte geredet werden, nur nicht über meine Geschichte. Ein Schweigegebot. Sieben lange Jahre lang kein Echo. Während andere sich über mich den Mund zerrissen. Zu viele wissen zu wenig von mir. Heute noch - kein Echo. Keine wirkliche Auseinandersetzung. Nichts, schalltoter Raum.

2. Keep Smiling Sister
"Glücklich sein müssen" als Verpflichtung nach aussen. Wehe, wenn ein auch nur ein kleines Wackeln da wäre. Ein Anflug von Gefühl. Nach dem Wechsel hatte ich glücklich zu sein. Sonst nichts. Die Bedürftigkeit wuchs. Aber durfte sich nicht nach außen zeigen. Bloß nicht. Statt dessen verlangten alle die sinnfällige Dokumentation, dass ich genau das Richtige getan habe. Und sonst nicht. Ein soziales Display. Funktionabel.

3. Schwarze Löcher
Das ist die Gravitation des Überlebens. Es ist komprimierte Erfahrung im Augenblick. Verdichtet Leid zum Nichts. Bis nichts bleibt, nichts mehr da ist. Vorgestern noch angespuckt in der Unterführung am Alten Markt zu Wuppertal, randalierende, pöbelnde Jugenliche, ein biersauer Atem im Nacken - am nächsten Tag war nichts geschehen. Ich zeigte nichts nach außen. Wem denn auch? Man musste durchkommen. Funktionierte weiter. Morgens steht man wieder auf, als sei nichts geschehen. Aber man täuscht sich. Da war doch was. Ein Mensch. Eine Geschichte.

Ich denke anhand dieser drei Schraffuren lässt sich mein Fühlen und Leben nachzeichnen. Damals und schon immer im kirchlichen Raum. Es gab keinen Ort, kein Echo. Nichts. Schonungslos blieb die Einsamkeit eines Weges, der nicht mit-teilbar war. Unerfüllt die Hoffnung auf Begleitung, auf Menschen die blieben. Spürbar wird darin die Verlassenheit eines Menschen, der ankommen wollte und entsorgt bliebt. Selige Dialektik im Augenblick des Abschiedes.

Es ist gut, gegangen zu sein. Und es schmerzt verdammt.

Darüber will und werde ich schreiben. Weil es an der Zeit ist und weil ich nicht vergessen und überleben darf. Das hat zu lange gedauert. Nun kommen andere Zeiten.

Die letzten Entscheidungen von seiten der Kirche klingen nach. Sie waren gewollt und von mir eskaliert. Es ist nun ein klares Geräusch. Das Geräusch eines rostigen Nagels auf Stahl. Eine Furche ziehend. Es ist auch mein zerbröckelnden Schutz, die Nacktheit spürbar wie die Angst des Nachts. Keine Antwort auf alltägliche Fragen möglich.

Das ganze zu letzt: Unanehmbar.

Eine Presbyterin aus Uedem schrieb mir, sie wünsche mir sehr, dass ich endlich meinen Frieden finde. Ein frommer Wunsch. Wie sollte Frieden finden mit solchem Verhalten? Ein unannehmbarer Wunsch. Auch das ist der Refrain für meine kirchliche Existenz.

Unannehmbarkeiten.
Ein heute nur zu gut passendes Wort.


Freitag, Oktober 27, 2006

Du sollst Dir ein Bild machen

Kirchliche Beschlüsse haben eine eigene Diktion. Eine ganz besondere Sprache, kühl, inhaltsleer und doch treffend. Da tut es gut, sie lesen zu lernen und zugleich gegen das Licht zu halten, um das Wasserzeichen des Mißtrauen zu entdecken. Ein tiefes Mißtrauen gegenüber dem, was fremd und anders ist. Das sich nicht einpasst wie erwartet. Und vor allem auch ein Mißtrauen gegenüber sich selbst und der eigenen Verpflichtung als Gemeinde: dass man wirklich könnte, wozu man berufen ist. Dass man hält, was man verspricht. Dass anderes möglich wird.

Erst spät konnte ich auch den Brief des Presbyteriums zu Uedem lesen, den ich zuvor Petra stumm überreicht hatte, damit sie ihn las - stellvertretend für mich. Sie öffnete ihn draußen auf der Bank vor unserem Haus. Las und sagte nur: "Vergiss es". Ich nickte. "Hatte ich mir schon gedacht, als niemand anrief." Heute nun, über eine Woche danach , lese ich ihn zum ersten Mal selber. Nehme ihn in die Hand und zu mir. Es steht dort geschrieben:

"Sehr geehrte Frau Kammann,

das Presbyterium in Uedem hat sich in seiner Sitzung am 18. Oktober ausführlich über die Fortsetzung Ihres Predigtdienstes in Uedem beraten und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass der diesbezüglich im Mai 2005 gefasste Beschluss aufgehoben wird.

Das Presbyterium hat sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht, zumal ihre Gottesdienste in der Gemeinde geschätzt wurden. Allerdings hat Ihr Verhalten einigen Mitgliedern des Presbyteriums und nicht zuletzt Ihre Aktion vor dem Landeskirchenamt am 29. Sept. das Presbyterium bewogen, die Zusammenarbeit einzustellen.

Ihrem Wunsch nach einer Verabschiedung in einem Gottesdienst hat das Presbyterium nicht entsprochen. In der nächsten Ausgabe des Gemeindebriefes wird jedoch ein Artikel erscheinen, der auf Ihre Predigttätigkeit in Uedem zurück blickt.

Mit freundlichem Gruß
Joachim Wolff, Pfr."

Jene doch altbekannte Diktion. Es wäre wirklich nicht schwer gewesen, anders zu beschließen. Es wäre nicht schwer gewesen, anders zu schreiben. Sie konnten es nicht. Unterschrieben hat diesen Brief ausgerechner jener Joachim Wolff, mit dem ich in Heidelberg gemeinsam studiert habe. Der sitzt nun seit Jahren im Pfarramt, dort zu Büderich und weiß nichts von mir. Verwundert bin ich nicht, dass er unterschreiben konnte, ohne ein Wort mit mir zu wechseln. Er ist nun bestallt zum Verwalter der Gemeinde - bis ein neuer Pfarrer kommt. Aber - so ist es nun mal.

Merkwürdig bleibt schon, dass es immer mein "Fehlverhalten" ist, das erinnert, erwähnt und festgehalten wird in solchen Beschlüssen. Die andere Seite der Geschichte klappt komplett weg. Als ob ich nicht so elend lange Wege gegangen wäre, sondern einfach nur eine Fehlfunktion aufweise, die vor weiterer Verwendung zurück schrecken lässt. Ein Brain Bug: "Attention! This woman has permanent fatals errors." Blue Screen und "Please press Control and Escape!".

Also scheute man sich auch hier nicht, Ursache mit Wirkung zu verwechseln. Meine Talarniederlegung begriff man bei weiten nicht als meine Antwort auf den Versuch der Landeskirche, mir die Ordinationsreche zu entsagen - ohne Rechtsgrundlage. Meine Talarniederlegung war ein Angriff auf die Gemeinde. Sonst hätten sie es nicht erwähnen mussen.

Aber wie sollte man auch begreifen, wenn man nicht mal den Mut fand, mit mir zu reden? So vollzog man unhinterfragt genau das, was das Landeskirchenamt brauchte. Verschaffte jenen die Rechtsgrundlage, die sie zuvor entbehrten. Machte aus Unrecht Recht.

Das alles erinnert mich sehr an meine sog. "Abberufung" aus Chorweiler im Jahre 1996. Sie folgt sprachlich einem ähnlichen Muster. Dort schrieb der damalige Stadtsuperintendent Manfred Kock, der spätere Präses der EKD, über mich:

"Kompliziert ist der Fall deshalb, weil es kaum greifbare Fehlverhaltensweisen gibt, die Frau Kammann anzulasten sind. Es sind vielmehr atmosphärische Probleme, Irritationen, die ihr Auftreten in der Gemeinde auslöst. Aus der Gemeinde wird berichtet, sie habe wenig Gespür für eine Angemessenheit des Umgang mit anderen Mitarbeiterinnen. Diese reagierten teilweise verschreckt und verstört, wenn Frau Kammann mit Kußhänden begrüßt oder verabschiedet. Zudem, so schreibt die Gemeinde, gäbe es eine äußerst beklemmende Atmosphäre, weil Frau Kammann ihre persönliche Problematik auf andere Mitarbeiter ablädt. Daher hat das Presbyterium diese Situation für nicht länger tragbar erklärt."

Sie sehen: der Fehler liegt stets bei mir. Auch wenn er sich nicht immer verifizieren lässt, macht man sich ein passendes Bild. Das Urteil über solche hahnebüchenden Argumente kann ich getrost meinen Lesern überlassen.

Persönlich wurde ich in keiner der beiden Sitzungen angehört. Man machte, was in die eigene Welt sich einpasste. Das Mindeste in einem demokratischen Rechststaat wäre doch, wenigstens dazu angehört zu werden. So dachte ich. Das gönnt man selbst jedem Angeklagten im Prozess. Bei der Kirche und ihren Beschlüssen wie Urteilen sieht es da anders aus. Man soll sich ein Bild machen, damit die klerikale Welt unberührt bleibt.

Beide Stellungnahmen künden auch davon, dass ich predigen könne. Und es hinfort nicht mehr tun darf. Der Widerspruch ist als Luftmasche eingewebt. Bei Kock klingt es so:

"Persönlich habe ich den Eindruck, dass Frau Kammann auf der einen Seite hochbegabt ist. Sie hat, so habe ich mich einmal überzeugen können, eine ausgesprochen gute sprachliche Begabung und verfügt über die Fähigkeit, konkret und schlüssig zu sprechen."

Dass es auch anders geht, zeigt vielleicht zum Abschluss die Stellungnahme des Wachtendonker Bürgervereins, für den ich vor zwei Jahren als Bürgermeister Kandidatin in Wachtendonk antrat und am "schwarzen" Niederrhein immerhin 44,3 % der Stimmen bei der Bürgermeister-Stichwahl erhielt.

"Der WBV Vorstand ist von Karin Kammann vorab über alle sie persönlich betreffende Umstände, die zur Angreifbarkeit Ihre Person führen könnten, hinlänglich unterrichtet worden. Nach gemeinsamer Aussprache im Vorstand hat dieser sich voll und ganz hinter die Kandidatur von Karin Kammann gestellt und unterstützt diese auch weiter. Eine Diskussion ihrer Vergangenheit in der Öffentlichkeit halten wir weder für notwendig noch für angebracht.

Wir sind weiter der Überzeugung, dass bürgerliche Rechte und Wählbarkeit nicht daran geknüpft sind, durch welche persönlichen Schwierigkeiten und Entwicklung ein Mensch gegangen ist. Gerade das Meistern dieser betrachten wir als persönliche Reife, als menschliche Kompetenz und innere Wahrheit."

So etwas von der Kirche zu erwarten, wäre Illusion. Oder glauben Sie noch an die Auferstehung? Und wenn ja, warum?





Brigitte schreibt

Brigitte schickte mir die Tage einen Brief.

Sie, die Theologin und weise Frau. Die Pfarrerin, die ihre eigenen Kämpfe mit der Kirche austragen musste und daher weiss, wie es sich anfühlt, wenn man weite Wege gehen muss. Brigitte war in meinem Leben da, eigentlich immer. Eine Art Ersatzmutter und Begleiterin. Eine Gefährtin auf dem Weg ins Eigene.

***
Sie war es,
die mich besuchte damals in Wuppertal, kurz nach meiner Operation. Das war die dunkle Zeit, als ich während meiner Operation umziehen musste, weil die Versprechen des Superintendenten zu Düren sich als Luft und Seifenblasen entpuppten. "Kommen Sie nach Düren. Grünes Licht" waren die Durchsagen. Doch niemand legte den Gang ein. Es blieb beliebig. Da musste ich dann umziehen, weil ich versprach, nach dem Eingriff auszuziehen. Meiner Ehepartnerin war das damals nicht zumutbar. Schon über ein Jahr hatte sie diese Situation ausgehalten, bei laufendem Scheidungsverfahren mich versorgt, weil die Kirche schwieg und von grünen Ampeln redete. Ein Jahr dauertees, bis es überhaupt zu einer Reaktion der Kirche kam.

Kurz nach meiner Operation besuchte mich also Brigitte und sie blieb und wir erzählten ... lange. Es war sichtbar und spürbar, dass sie verstand, dass sie sah, was andere damals nicht sahen. Ein verletzlicher Mensch, doppeltbelichtet, erschöpft und froh. Es muss im Sommer 1988 gewesen sein, in einer keinen anderthalb Zimmer-Wohnung in Barmen. Die Toilette war noch auf halber Treppe, eine dicke griechische Frau wohnte über mir. Die Tapeten an den Wänden waren frisch geklebt von Freunden, die diesen Umzug bewerkstelligten, während ich im Krankenhaus die besten Grüsse des Superintendenten zu Düren zu lesen bekam.

***
Sie war es,
die ich später begleiten konnte. Ein Glück war es doch, dieses Sondervikariat in der Ev. Akademie zu Mülheim. Dort war sie damals Studienleiterin und ich freute mich, ab und an mit ihr zusammen arbeiten zu können. Für mich, die Neugeborene und Spätberufene gab es dann Frauenwerkstätten, erfahrungsbezogenens Wissen, weibliche Weisheit und die Möglichkeit, meine weibliche Identität nicht unreflektiert anzueignen. Beschenkt wie ein staunendes Kind.

Es war eine gerüttelt gute Zeit, getrübt auch von ihrem Abgang und den vielen Anfeindungen, die sie mit ihrer eigenwilligen Arbeit gewahr werden musste, weil sie die weibliche Erinnerungsgeschichte nicht vergaß. Die Tagung zur weiblichen Erinnerung "Frauen, Ahninnen und wir" ließ das Landeskirchenamt die Bekenntnisfrage stellen, da die Herren Oberkirchenräte die männliche Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist in Gefahr sah. Brigitte ging dann aus der Akademie, nur kurz bevor diese sich selber auflöste. Ein Weg in die Fremde, ins Eigene zurück.

***
Sie war es,
die auch bei meiner Ordination dabei war. Wie eine gute Assitentin und Geburtshelferin. Als meine Initiation in dieser Kirche gelang und ich "da" war und nicht länger nur "da-vor": als Frau und Pastorin in dieser Kirche. An jenem Tag, dem 12. Spetember 1993, war die Petrikirche in Mülheim rappelvoll und selbst meine Eltern, die lange mit mir und meinem Weg gerungen hatten, kamen um ihr Kind zu sehen. Dort oben im Talar. Angekommen, wie es schien. Es war wie die große Versöhnung mit meinem Lebensweg, das stille Einverständnis, es doch noch geschafft zu haben. Die geglückte Wiederholung nach vorne, von der Kierkegaard zu schreiben wusste. Ein Wiedersehen nach langer Zeit.

Unversehrt und doch gezeichnet. Seht her, da bin ich. Ein Mensch, eine Frau mitten unter Euch. Lebendig und schön. Brigitte sah das und es war wunderschön zu erleben, wie dieser Gottesdienst langsam in die Hände der Frauen überging, wie Freundinnen mir vor der Predigt Rosen auf die Kanzel legten, wie das Fest des Lebens und der Liebe beginnen konnte - mit der Predigt über die Heilung eines Aussätzigen. Dem Text für diesen Sonntag, der Schulterschluss mit meinem Lebensweg.

***
Sie war es,
die ich später besuchte, als sie mit ihrer Freundin Barbara an den Niederrhein zog, dort ein Tagungszentrum für Frauen eröffnete - der Berkhövel bei Uedem - und sich mit den Bäuerinnen der Umgebung anfreundete. Ein ländliches Leben und der Wunsch, Frauensolidarität auch leben zu können, handgreiflich und sichbar. Ein Ort nicht nur für Frauen.

Den Weg zum Schweinestall habe ich damals mit gelegt, graue Steine gehämmert und mich gefreut, abends am warmen Kamin zu liegen. Es war wie ein Traum, der Wirklichkeit wurde, bis der zu frühe Tod von Barbara auch diese Heimat beendete. Schleichend und unmerklich. Ausgerechnet Barbara, die Jüngere, ging zu früh.

***
Sie war es auch,
die später wieder als einzige der Theologen in meine Wohnung kam. Noch einmal den Weg zu mir fand, damals als ich in Chorweiler wie ein Käfer auf dem Rücken lag. Als mit einem Schlag meine mühsam angeeignete und zusammen geklaubte weibliche Idenität zersplitterte wie unter einem Axthieb. Da war mir nur noch Schmerz fühlbar. Die Welt versank in einem lauten Schrei. Und Brigitte war da, legte meinen Kopf in ihren Schoß und ließ mich endlich los, frei in den Schmerz einer Trennung, die Abgründe offenbarte. So konnte ich mich ablegen, so war ich mutterseelen allein und doch mit aller Mutterseele versehen. Weil ich endlich verstand, weil ich endlich begriff, dass es nicht an mir lag, dass bei dieser Trennung andere Mächte im Spiel waren, viel stärker als ich.

Da war ein bigott frömmelnder. protestantischer Vater, der seine siebenjährige Tochter zugleich ins Bett lockte. Eine brüchig-bürgerliche Fassade, die da zusammenbrach und Abgründe offenbarte. Dazwischen ein Kind und heranwachsendes Mädchen, bei dem alle Muster verrutschten. Später eine Frau, die zwischen Macht und Liebe nicht mehr unterscheiden konnte. Die begehren musste, um "da" zu sein. Die darüber alle Sprache verlor und doch redetet wie keine sonst: Schau her, ich ziehe mich aus vor Dir.

Unheilbar war ihr dieses Loch in die Seele gebrannt. Ein Abgrund. Und wer daran rührte verging. Erst langsam begriff ich die Unmöglichkeit dieser Beziehung. Die Unmöglichkeit, sie dort heraus zu lieben ins Leben. Und so wurde sie der vergiftete Apfel für mich. So wurde es für mich Zeit, das Böse hinaus zu tun, bevor ich selber daran erstickte. Und wenn es die eigene Existenz kostete.

Tatsächlich war der Preis hoch: es kostete mich, was ich bisher als wertvoll für meine Frauenexistenz erachtet hatte. Dort geschah meine zweite Initiation. Mein Schritt ins Leben zurück. Der dritte notwendige Schritt. Um vom Überleben ins Leben zu kommen, um überhaupt wieder leben zu können.

"I am a MaleToFemaleToMe Person". Ich bin eine Mann-Zu-Frau-Zu-Mir Person. Es war der geglückte Dreischritt. Die Aufhebung des Widerspruches - jenseits der Geschlechtergrenzen.Zugleich war es auch ein Übergang in ein Leben zwischen den Geschlechtern, vom "Da-sein ins "Dazwischen-Sein" (Inter-esse), zugleich die Entleerung der Frage, was mich als Frau denn ausmache. Es war auch das Ende der Aneignung anderer und endlich der Weg ins Eigene, wenn auch unter Schmerzen geboren.

Dass nur darüber die Kirche verlustig ging, war wahrscheinlich nebensächlich. Allein ich blieb am Leben. Und das war nicht wenig in diesen Tagen.

***
Brigitte war da,
war da als die Zeugin meines Weges über Jahre hinweg. Weil es Zeugen udn Begleiter braucht, um glaubwürdig zu sein. Während meine Studienkollegen in Pfarrstellen berufen wurden, Orte wechselten, Karriere machten und Familien gründeten, sich im Eigenen verliefen, blieb Brigitte da auf ihre Weise. Blieb sie Zeugin und kannte - wenn doch nicht alle - so doch viele meiner Wege. Jemand der sehen konnte und verstand. Und so wunderte es mich nicht, dass Brigitte nun wieder schrieb, jetzt wo ich meinen Talar nieder legte. Dass sie die Geschichte schloss wie ein Kreis.


"Liebe Karin,

Freundinnen aus dem Ruhrgebiet schickten mir Artikel über deine Talarniederlegung. Ich möchte Dir sagen, dass mich das sehr berührt hat, ja geschmerzt hat. Einmal, dass diese Kirche dir deine gesuchte neue Identität verweigert hat. Ich erinnere mich noch an deine Ordination, wie wichtig sie dir war, so etwas wie ein Zuspruch zur Daseinsberechtigung. Das hat die Kirchenleitung nie kapiert, dass es in deiner Geschichte um etwas anderes als Recht und Paragraphen geht. Zum anderen hat mich geschmerzt, dass es wieder so eine Aktion sein musste, in der Du Dich preisgibst und verletzt.
...
Wie geht es in Deinem Leben nun weiter? Wie hast Du diese ganze Erfahrung innerlich verarbeitet? Kannst Du mit Deinen Beratungen genug Geld verdienen? Wie geht es mit Eurer Beziehung? Habt ihr wie geplant geheiratet? Und schließlich, was macht der fidele, kleine Hund?
...
Nun grüsse ich Dich ganz herzlich mit vielen, guten Wünschen für Deinen weiteren Weg.

Brigitte"

So etwas berührt und bringt verlorene Nähe wie pulsierendes Blut zurück. Es treibt zu Tränen. So etwas ist Sprache, die ich verstehen kann. Herzlich, mit Resonanz. Ein Mensch, der begleiten kann, der fragen und verstehen will, bevor er urteilt.


Donnerstag, Oktober 26, 2006

Wie geht es jetzt weiter?

So wurde ich mehrfach gefragt. So frage ich auch mich.


Ehrlicherweise muss ich dazu sagen: Ich weiss es einfach nicht. Ich werde mit 47 Jahren nicht mehr viel Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben und daher muss ich mich auf mein Eigenes besinnen. Es könnte Schreiben sein – die Phantasie, mit der ich auch nach Wachtendonk gezogen bin. Die Phantasie, die mir lebbar erscheint. Gerade jetzt.

Vor Jahren hatte ich bei meiner Heilpraktikerin in Düsseldorf eine Hypnose Sitzung. Und da sah ich mich jung und froh durch ein tibetisches Hochtal gehen, es gab Gras und Blumen und in der Mitte einen Bach.

Dem folgte ich, bis er in einer Höhle versickerte. In diese konnte ich – durch einen Seitenspalt – herein klettern und ich fand eine große Truhe. So wie man sie klassisch in Piratenfilmen sieht, mit schweren Eisenbeschlägen versehen. Es war mir möglich, sie zu öffnen und ich fand dort mehrere Pergamentrollen, die aufrecht in der Truhe standen. Es müssen weit über fünfzig gewesen sein und ich nahm eine davon behutsam heraus und fand das Leben eines Menschen beschrieben. Ich blieb lange Zeit in dieser Höhle und war interessiert, all diese vergessenen Geschichten lesen zu dürfen. Die Zeit verging und ich hatte gerade mal zwei, drei Rollen angelesen. Als es dunkel wurde, beschloss ich schweren Herzens die Höhle zu verlassen. Schloss die Truhe und legte einen Stein darauf – meine Erinnerung, wieder zu kommen und weiter zu lesen und kletterte aus der Höhle.

Diese Traum, diese Phantasie, dieser Hypnose ist schon einige Jahre alt und sie wächst und begleitet mich. Und sie klingt in mir wie eine Einladung, Geschichten zu schreiben. Nicht unbedingt die meine, sondern mit meiner Wahrnehmung zu anderen Menschen zu gehen. Achtsam zu werden, einfühlsam und meinen besonderen Blick zu üben. Diese Rollen hätte ich nicht mitnehmen können. Diese Rollen eigneten sich nicht zur Beute und zur Vermarktung, das war mir auf Anhieb da. Sie waren eigentlich nur da, um dort gelesen zu werden. Um ihren eigenen Ort zu finden. Ihre Lesestube von Natur umgeben. Und es rührt mich heute noch, dass ich diesen Stein auf die Truhe gelegt habe – wie ein Versprechen wieder zu kommen. Wie ein Gedenken auf jüdischen Gräbern.

Das beschäftigt mich heute noch und es kommt zurück und ich schreiben hier und da kleine Mosaike von Menschen – so wie ich es ja auch in den Beerdigungsansprachen gelernt habe. Menschen, die man nicht vergessen darf oder sollte. Die wertvoll genug sind, ihren eigenen Raum zu finden. Das ist, was ich mir für mein weiteres Leben vorstellen kann. Das ist, was ich mir wünsche, dass ich schreibe und da bin. Seit Jahren schon habe ich an der Schreibmaschine gesessen und geübt. Briefe dieser Länge fallen mir nicht mehr schwer und früh Morgens ist eine sehr schöne Zeit zu schreiben. Wenn der Hund sich zu meinen Füßen legt, schläft und genügsam wird. Wenn die Sonne über die Dächer blitzt und ich den frischen Wind ins Zimmer bekomme.

Eigentlich habe ich schon immer Schreiben wollen. Meine kleine oder großen Fluchten kündeten davon. Ausblicke in Meersburg bei Beatrice, die mich damals aufnahm und mich in ihr Gästezimmer setzte. Anette von Droste-Hülshoff benachbart. Eine wunderschöner Blick nach Meersburg hinein. Das Locken des Sees. Oder bei meinem Freund Mark in der Schweiz, der da ein ganzes Haus für sich hatte, das er sorgsam von seinen Scheidungstrümmern geleert hat: ein weiter Blick über die Streuobstwiesen hinüber zum Säntis. Sonne, die mich verwöhnt und die Phantasie, dort einfach bleiben zu können und zu schreiben. Kochen, Wandern und Schreiben. Abends gemeinsam am Kamin sitzen. Mark, der als Religionslehrer arbeitet, erzählt mir von seinen Projekten, beiden – denen im Unterricht und seinen Exkursionen ins Fremde, in den Himalaya und die urbanen Wüsten. Beide waren wir so seltsam unbehaust in der Welt. Der Backofen öffnet sich für einen Auflauf und Saft steht bereit.

Oder auch mein kleines Zimmer in Überlingen. Über den Höhen des Sees und ganz in Holz vertäfelt. Eine Alleinerziehende suchte dort eine Mitbewohnerin und ich habe mir dieses verwunschene Försterhaus angesehen. Unglaublich, wie es gebaut wurde. Keine Tapete, nicht eine, sondern nur dieses wunderbar atmende Holz herum. Balken, die durch die obere Etage sich ziehen. Tragfähig, solide über Jahrhunderte schon. Jemand wusste sehr genau von dem Ort, wo es stand. Es bot eine fantastische Aussicht auf den See, über die Birnau hinüber auf die Schweizer Seite, ein Seelenkummerschlummerblick, der versöhnte und aufforderte, bei sich selber anzukommen.

Schreiben, das war schon immer meine Versuchung und als ich mich los lies und aufmachte damals, zum Ostern 1999 und an den Bodensee zog, klingte alles in mir. Da nahm ich all mein Hab und Gut und pferchte es zusammen auf einen 7.5 Tonner. Freunde schleppen es wie Gerümpel aus der Eifelstr. 22 zu Köln. Auf der Mitfahrzentrale nahm ich noch zwei Menschen mit in den Süden und so fuhren wir von Köln los, weit weg von allen kirchlichen Problemen. Los, einfach nur los in einen sonnigen Ostertag über die schwäbische Alb. Und ich kam an in Meersburg und Konstanz, fremd und doch zu Hause, meiner inneren Stimme ein Stück näher gekommen. Es war ein gutes Jahr dort in Konstanz. In Sicherheit vor der Kirche, dem engen Rheinland mit seinem Landeskirchenamt und eigenen Befindlichkeiten.

Zur Ordination hatte der Superintendent mir ein Buch geschenkt. Ich weiss nicht, ob ich davon erzählt hatte. Ich durfte mir, wohl auch aus Ermangelung eigener Kenntnisse, was wünschen. Und ich wünschte mir von Magriet de Moor dieses schöne Buch: Erst grau dann weiß dann blau. Die Geschichte eines Verschwindens wurde mir zur Ordination zugeeignet. Sicherlich wusste der Superintenden Leßmann nicht, was er mir da schenkte. Es geht um eine Frau, die spurlos verschwindet aus ihrer Ehe, ihren Beziehungen, ihrem Alltag. Und spurlos heisst tatsächlich, ohne eine Spur zu hinterlassen. Einfach weg. Und Robert, ihr Mann steht da. Nach zwei Jahren kehrt sie zurück. Wortlos ohne auch nur eine Frage zu beantworten, nimmt sie ihr vorhergehendes Leben wieder auf. Das war mein Ordinationsgeschenk.

So ähnlich fühlte ich mich damals auch, als ich an den See ging und niemandem Bescheid gab in der Kirche und Kirchenleitung. Als ich verschwand und mein neues Leben ausprobieren wollte. Ich traf auch auf Rose Ausländer, die nach Jahren zum ersten mal, von Zürich kommend, in Konstanz wieder den Fuß auf deutschen Boden setze. Die 1961 von dort dann übersetzte nach Meersburg, um den Droste-Hülshoff Preis zu erhalten. Und dann – völlig unüblich und kaum bekannt, ein Jahr in Konstanz blieb. Sich niederließ und schrieb. Auch sei schien wie verzaubert von dieser Idylle. Auch sie schien wie verhaftet und versöhnt von diesem kleinen Stück Niemandsland zwischen den Grenzen, wo keine Bombe jemals fiel und alles unberührt und heil erschien: eine Stadt, an dem der Krieg still vorbei gezogen ist. Mir sagte man, dass es eine List gewesen war, die Konstanz rettete. Dass man die Lichter brennen ließ, damit keiner der Bomber die Grenze zu Kreuzlingen erkennen konnte. Und so lief jede Bombe dort Gefahr, Schweizer Gebiet zu treffen.

Aber egal, Rose blieb dort und schrieb. Es war ihre erste Versöhnung mit einem Nachkriegsdeutschland. Die lyrische Berührung ihrer Seele, das Erkennen zaghafter Zugehörigkeiten, und sei es nur die Sprache, in der sie schrieb, dachte und webte.

So verschwand also auch ich nach Konstanz und kam zugleich an. Kam an mit meiner Phantasie zu schreiben, der Phantasie auch eine neues Leben auszuprobieren, einfach weg zu gehen, ohne jemanden Bescheid zu sagen. Ich musste raus, wenn immer ich nicht ersticken wollte. Und kam an und fand damals doch nicht den Mut, Ernst zu machen. Doch davon ein anderes Mal. Dann geht es um eine doppelte Entdeckung. Die Zürichs mit seiner handgreiflichen Exilantengeschichte und die von New York, den SubUrbs der Transgender mit Leslie Feinberg, einer kleinen Rabbinerin auf der WestSide, die mich zu Simchat HaThora einlud und auch von Alex, der 1999 schon begann, europäische Unternehmen wie Briefmarken zu sammeln.

Mittwoch, Oktober 25, 2006

Das Jona Syndrom

Hier nun ein weiteres Kapitel meiner geliehenen Identitätsmäntel. Oder vielleicht besser in diesem Fall: der Identitäts versichernden Steine, die man sich in den Mantel steckt, um sein zu können. Um sich versichern zu können. Geschichten, die einem Leben Basis bieten sollen. Denn wie bringen wir in Erfahrung, was wir sind und welche Muster wir leben? Welchen Erwartungen wir folgen. Es gibt so einen inneren Spiegel, der uns in die Lage versetzt, Ziele anzustreben, Leben möglich zu machen. Dazu müssen wir ein Muster finden, ein Skript, das für unser Leben hier und jetzt stimmig zu sein scheint. Ein Stein in die Tasche nehmen, der uns erinnern kann.


Die letzten zwei Jahre war die Geschichte des Jona so ein Stein für mich. Nach langer Reise ankommen und dennoch nicht zufrieden sein können. Jona - das wurde mir zur notwendigen Chiffre, um überhaupt wieder in der Kirche, einer Gemeinde predigen zu können. Rückwege zu gehen, ohne sich selber zu verlieren.

Ich selber hätte es ja kaum für möglich gehalten, dass es da noch einmal einen letzten, wenn auch vergeblichen Anlauf geben könnte, zurück in diese Kirche, zurück in meinen gelernten Beruf. Pastorin zu sein - das war mir mehr als einen Beruf zu haben. Pastorin zu sein, das war meine Ordination vor allen Menschen. Seht her, eine Frau. Seht her, ein Mensch mitten unter Euch. Seht her, da bin ich. Die Ordination, für viele nur ein Durchgangsstation auf dem automatischen Weg in das Pfarrerdasein sah bei mir etwas anders aus.



Sieben Jahre hat es gedauert, bis ich dort sein konnte. Sieben lange Jahre voll Angst und Zittern. Sieben Jahre lang den Weg von Mann zu Frau, dieser Wechsel - mühsam und unter Schmerzen. Aber immer mit der Erwartung, dort auf der Kanzel ankommen zu können. Da zu sein. Von 1986 bis 1993 nahm ich diese Strecke, nicht einfach aber ich schaffte es. Ich war ordinierte Pastorin. Ich war angekommen.

Nach 1993 zersplitterte alles unter den Händen. Und weitere sieben Jahre später, im April 2000 wurde ich dann aus dem kirchlichen Dienst entlassen. Keine Stelle, keine Absicherung. Ein Sonderdienst, unter dem ich aus merkwürdigsten Umständen entlassen wurde. Wachsende Entfremdungen. Niemand hatte mich gesehen, alle erwarteten eine funktionierende Frau. Begegneten mir mit ihren eigenen Erwartungen.

Es war vielleicht gar nicht mal die Tatsache, dass ich gewechselt war, sondern die Enttäuschung, dass ich nicht die geworden sind, die sich die Männer im Landeskirchenamt zusammen phantasiert haben. Eine, die dankbar ist für alles. Die einen Knicks macht und sich verdankt dem Großmut derer da oben. Immerhin ist es in allen kirchlichen Stellungnahmen auffällig, dass dieser Tenor herrscht. Dass ich ein undankbares Mädchen bin. Dass sie doch viel und noch viel mehr für mich getan hätten. Ich denke wirklich, bis heute leben sie in dieser Projektion, für mich nur gute Onkel gewesen zu sein, die es gut mit mir meinten.

Ich dagegen entwickelte mich nicht konform. Bestätigte nicht ihre Erwartungen. War nicht dankbar, angepasst und artig. Die Verwechslung begann da, wo man meinte, ihre kirchliche Erlaubnis würde mich am Leben halten. Ihre Toleranz wäre es, die mich ermöglichte - als Frau. Für sie war das dann ein treffliches „Experiment Mensch“ und es gab sicherlich nicht wenige, die sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen wollten.

Sicher und bekannt ist mir, dass es gerade bei den angeblich toleranten Männern der Fall war. Da gab es einen Pfarrer, der sich damals sehr für Homosexualität einsetzte, der sich immer wieder von mir fasziniert zeigte, der mich bewunderte ob meines un-erhörten Mutes und auch in den Tagungen der Ev. Akademie stets von mir zu künden wusste. Ungefragt und ohne Rücksicht. Seht her, sagte er und scheute sich nicht, mit dem Finger gar auf mich zu zeigen. Allein, kein einziges Mal hatte er mit mir geredet. Und als es dann geschah, spät nach dieser Zeit, da merkte ich, dass er all seine runter geschluckte eigene Sexualität, all sein verklemmtes Schwulsein selber mit hinein gepackt hatte in diese Bewunderung. Sie tut, was ich mich nicht traue. Ein Engagierter, der sich umzingelt hatte und im Beamtenschrank saß.

Ich glaube wirklich, dass mein Scheitern in der Kirche genau damit zu tun hatte: Dass ich eine lebendige Projektionswand wurde für die eigene Gutmütigkeit, für die Wohltätigkeit der Kirche mir gegenüber, in der sie sich selber gefallen konnte. Also eine durch und durch narzistische Angelegenheit. Daher wunderte es mich nun nicht mehr, dass niemand in dieser Zeit mit mir sprach. Aus dieser Falle konnte ich nicht entkommen. Es gab kein Entrinnen. Da – und nur da – meinten Sie es ernst.

Bleiben hätte ich nur können als Beweis ihrer eigenen Wohltat. Dabei verwechselten sie oft Homosexualität mit meiner Reise. Verstanden nicht, dass es Unterschiede gab. Verstanden nicht, dass es eine Reise ist. Erwarteten, dass man heimlich einen Durchbruch durch die Toiletten machte, die Seiten wechselte und strahlend wieder auf der anderen Seite heraus kam. Allein, so war es nicht.

Unglaublich bliebt mir daher, dass sie wohl bis heute nicht begriffen hatten, dass es ein Gesetz in Deutschland gibt, das diese Dinge regeln und begleiten kann. Dass es nicht ihre Barmherzigkeit ist, die mich ins Leben bringt. Sondern meine Verzweiflung. Und die Wahrnehmung meiner Rechte auf Grundlage eines Gesetzes. Ich glaube, das haben sie bis heute nicht verstanden. Wie kann sie sich so was heraus nehmen?

Es wunderte daher nicht, dass allein die Umschreibung meiner kirchlichen Zeugnisse mehr als ein halbes Jahr dauerte. Da bekommt man einen neuen Personalausweis, eine neue Geburtsurkunde und die Kirche weigert sich, das anzuerkennen. Ist völlig blind auf diesem Auge. Mein Abiturszeugnis gab es innerhalb von zwei Tagen zurück: Neu und korrekt ausgefüllt auf meinen Namen: Karin Kammann. Die Kirche brauchte tatsächlich sechs Monate und vier Tage dafür. Unglaubliche.

So ging es dann nach der Ordination scheibchenweise zurück. Man hatte sie mir erlaubt, so dachten sie. Und der Abschied kam genau da, wo ich Menschen gebraucht hätte. Wo ich hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken lag. Da hat mich Kirche fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Wo unter Beweis stand, was sie war für mich. Wo sie zeigen konnte, was sie verstanden hatte von meinem Weg. Da wurde man vielleicht gewahr, dass das eben kein „Experiment“, sondern ein Mensch ist. Und sich auf den Menschen einlassen - das war gänzlich unmöglich.

So verbrachte ich dann die Jahre 2000 - 2005 zumeist damit, einen Job zu suchen. Erfahrungen zu sammeln. Innerlich Abschied zu nehmen. Weit weg musste ich und das Muster der damaligen Zeit fand sich wieder in den Vertriebenen, den in Zürich Exilierten. Diese Stadt zog mich magisch an. Und als ich zum ersten mal im offenen Cabrio die Limmat entlang fuhr, kamen mir die Tränen. Einfach so. Als wäre dort ein tiefes Aufamten. Ein Ankommen und eine Flucht, über hunderte von Kilometern hinweg.

Das Rheinland mit den guten Onkeln war weg. Weit hinter mir. Und mir war bewusst, dass ich dort nicht werde leben können. Dort war verbrannte Erde. Ungeklärte Situationen. Die Projektion dieser klerikalen Männergesellschaft. Dorthin konnte und wollte ich auf keinen Fall zurück. Damals.

Aber - ich tat es dennoch. Unerkannt und klein. Zurück in diese Gemeinde, die mich ordiniert hatte. Zurück in diese wunderschöne Petrikirche mit ihren terracotta warmen Boden, den blauen Engelfenstern. Zurück in die Gemeinde in der Mülheimer Altstadt, so als wollte ich endgültig noch mal Kontakt aufnehmen mit dem Verlorenen. Eine Überlegung damals war sicherlich diese: Hier können Sie Dir die Kanzel nicht verweigern. Hier haben sie mich ordiniert, wie sollte das anders gehen.

Und so kam ich dann an in Mülheim, in einer kleinen Wohnung unter dem Dach. Lebte die Vertreibung und das Wiedersehen. Vertraute Wege an der Ruhr. Joggingstrecken durch die Saarner Aue. Startende Schwäne vor dem Ruhrwehr. Und vagabundierte durch die Berufe. Innerhalb von drei Jahren war ich Key Account Managerin Mobile Internet im Düsseldorfer Medienhafen, Kontakterin einer Werbeagentur, Trainerin einer Sales Task Force, Marketing Unterstützung einer IT Firma, Energie Optimiererin für eine Firma aus Lugano, Außendienstlerin für EC Cash Terminals im Direktvertrieb, DKV Bezirksrepräsentantin in Mülheim Ruhr und fuhr zwischendurch auf einem Kreuzfahrtschiff als Hausdame von Sri Lanka nach Mallorca. Ein Leben im Da-Zwischen.

Mein jüdischer Freund Shimon sagte einmal: "Karin, Dein Job ist es, Jobs zu bekommen." Ich wunderte mich nicht sehr, dass das auch ein Job sein könnte. Der innere Verschleiß jedoch wurde spürbar. Dennoch ging ich auch meiner Predigttätigkeit in Mülheim weiter nach, während die dort bestallten Pfarrer in ihre Sommerhäuser am Meer fuhren. Einmal Predigen weniger war ihnen nur willkommen.

Kurzum: Ich kam mir vor wie Jona, der auf allen möglichen Schiffen anheuerte, aber doch nicht bleiben konnte. Jona, der vor seinem Auftrag floh. Der nicht annehmen konnte, was von ihm verlangt wurde. Es ist keine angenehmen Erfahrung, immer wieder von Deck zu gehen. So, als sei mir keine andere berufliche Heimat beschieden, denn mein gelernter Beruf. Sicherlich habe ich gelernt, irgendwie zu überleben. Aber ich war immer noch Pastorin, wenngleich ohne Bezüge im Ehrenamt.

Verwunderlich war schon die gnädige Ignoranz der Mülheimer Kollegen. Alle drei Monate meldeten sie sich, um den Predigtplan fertig zu stellen und damit war es auch erledigt. Niemand kam mal bei mir vorbei. Ehrlich gesagt, das hätte ich auch nicht erwartet. Aber es wäre ein Zeichen gewesen.

Dann mit dem Unzug nach Wachtendonk und durch eine obskure, krude Eskalation kam ich wieder auf die Kanzel. Kirchengemeinde Uedem. Ehrenamtliches Predigen. Was man ja tun muss, um sich überhaupt den Beruf zu erhalten. Und dann saß ich da. Mit Tränen in den Augen bei der ersten Fahrt zum Gottesdienst. Ich, die ich innerlich doch auch Abschied nehmen musste, sollte wieder predigen? Wieder in Kontakt mit diesem Beruf gehen? Meinem verlorenen Beruf? Wie sollte das nach all den Erfahrungen gut gehen können?

Dennoch: ich tat es. Und wurde überrascht von einer Gemeinde, die offen war. Dies sich neugierig zeigte, interessiert. In einer gewissen Weise menschlich. Die erste, die eine Resonanz gab und mich einlud, da zu bleiben. Nicht mehr zu fliehen. Als der Pfarrer dann erkrankte, dachte ich: Also gut, versuche es ein aller letztes Mal. Geh zurück in deinen Beruf. Mach ein Ende mit den beruflichen Verlegenheiten und Ausflüchten. Versuche es ein letztes Mal.

Es war das, was ich heute das Jona-Syndrom nenne. Dass ich den Rückweg nahm in die Hoffnung. Die Hoffnung, dennoch da sein zu können - als Mensch in dieser Kirche. Als Pastorin für die Menschen. Und ich spürte, wie alles nachwuchs. Ja, da war nichts verloren gegangen. Es tat gut, die Beerdigungen zu machen. Den unmittelbaren Kontakt mit den Menschen wieder zu suchen. Einer sagte gar: "Nach ihren 15 Minuten Ansprache habe ich mehr gelernt von meiner Mutter als in den 25 Jahren zuvor." Es tat gut, den Konfirmanden Unterricht mit zu machen. Gut, sich zu verbinden und da zu sein. Es war wie ein langsames Erwachen, sicherlich skeptisch beobachtet. Blinzelnd noch

Sollte ich mich darauf einlassen? Nach all den Verletzungen in den letzten Jahren? Heute kann ich sagen, ich hätte es vielleicht besser nicht getan. Heute kann ich sagen, mein Jona hatte keinen Erfolg. Denn die biblische Geschichte geht ja anders weiter: Jona folgte seiner Berufung und ging nach Ninive, der großen Stadt und predigte Buße. Und die Menschen bekehrten sich zueinander. Nahmen einander an, was Jona so wütend machte, dass er sich ganz verbiestert zurück zog. Denn damit hatte er nicht gerechnet.

Kann sein, ich habe zuletzt zu viel versucht. Aber es muss auch ein Ende haben und finden. Das Zeichen des Jona - es ist die Signatur eines Scheiterns. Die erneute Feststellung, nur mich selber zu haben. Und kann sein, dass das Schreiben all dieser Erfahrungen für mich jetzt der Fischbauch ist, indem Jona getrost sein Lied sang. Ich bin mir sicher: die Angst wird wieder kommen. Aber nicht jetzt. Ich bin mir sicher: Für meine Wut wird vielleicht auch ein Kraut gewachsen sein, wie damals bei Jona, dem Gott zu guter Letzt einen Schattenbaum schenkte.

Zwischen Fischbauch und Schattenbaum möchte ich weiter schreiben. Vergessen all die vielen Kämpfe ums eigene Überleben. Die schlaflosen Nächte. Der stumme Zorn. Gestern schrieb mir Brigitte eine Karte. Sie, die mich damals vor 13 Jahren mit ordiniert hatte. Es kommt zusammen, was zu Ende geht. Ein alter Kreis schließt sich. Das Neue noch nicht in Sicht. Bleiben wir zuversichtlich. Auch wider dem Verbote.

Jona hat abgedankt. Es gibt keinen Weg nach Ninive. Dort, wo das Geld und die Macht ist, im Landeskirchenamt, wird es keinen Weg der Buße geben. Dort sitzen die, die nun das "Experiment Mensch" zu den Akten legen können. Und sinnierend sagen: "Schade, wir haben ihr doch alle Möglichkeiten gegeben." Und dann weiter machen wie bisher.


Dienstag, Oktober 24, 2006

Das Pfarrhaus - eine architektonische Depression

Man muss sich wundern, wie dominant Architektur sein kann. Manchmal hilft sie auch Pfarrwahlen zu entscheiden. In Uedem, dort wo ich einen Moment hoffte und überlegte, Pastorin zu sein oder zu werden, handelt es sich um ein solches Haus. Ein 1971 gebautes Pfarrhaus, mitten im Gemeindezentrum, natürlich nach Vorschrift mit den drei gebotenen Kinderzimmern, alle auf einer Reihe verteilt in der oberen Etage. Jedes der Zimmer hat die gleiche Quadratmeterzahl, nur um niemanden zu benachteiligen. Drei mal gleiche Kinder. Am Ende des langen Flures befindet sich dann eine beige gekachtelte Dusche.

Für eine neue Stellenbesetzung ist das schon mal eine Ansage. Drei Kinder muss man haben. Oder zeugen. Oder wenigstens zwei. Bei der lebenslänglichen Beamtenversorgung sollte das eigentlich keine Schwierigkeit sein. Gebärfreudige Grundversorgung inclusive.

Drei Kinder sind Standard für die Errichtung von Pfarrhäusern, das steht wirklich so in der Richtlinie für die Errichtung von Pfarrhäusern. Früher waren sogar vier Kinderzimmer, die die Gemeinde einem vermehrungsfähigen Pfarrerehepaar bereit stellen musste. Nun ist man herunter gekommen auf korrekte drei Kinderzimmer.


Damit sind wahrscheinlich schon mal weitere Entscheidungen gefallen: der Pfarrer oder die Pfarrerin ist heterosexuell und als Mann & Frau mit Zeugungswunsch oder schon gezeugtem Nachwuchs versehen. Bei Zeugungswunsch wird es dann schwierig: das Schlafzimmer im Pfarrhaus wurde vernachlässigt und liegt nun direkt über dem Flur und Eingangsbereich. Energetisch, so würde meine Freundin Gugu sagen, ein Unding. Feng Shui sieht hier die Einladung zum Scheitern jeglicher Beziehungen. Stellen Sie es sich vor: unten kommt der Penner zum Pfarrbesuch und genau darüber, gerade mal zwei Menter entfernt, ist das Intimste, was ein Haus zu bieten hat.

Dieses Schlafzimmer mit schrägen Wänden befindet sich über dem Eingangsflur, wo Hinz & Kunz zum Pfarrer kommen. Unglaublich und gut tat der Vorgänge daran, sein Büro extra neu anbauen zu lassen. Damit man unten nicht aufsaugt, was oben hindert. Denn das trägt man artig weiter bis in den Schlaf. Kein Wunder, wenn dort Ehen scheitern und versanden. So etwas ist Treibsand im Bett. Und nicht nur da.

Der bisherige Pfarrer, so wurde mir berichtet, konnte diese Konstellation auf Dauer nicht ausgehalten. Weder in der Beziehung noch sonst. Und der Anbau des Pfarrbüros war eigentlich Hilflosigkeit und die frühzeitige Dokumentation, dass was falsch ist in der Konstruktion. Nun hat der Vorgänger wohl weißlich die erste, beste Gelegenheit genutzt, um auszuziehen und sich mit seiner neuen Geliebten zu verdünnisieren. Das ist in gewisser Weise mehr als nachvollziehbar. Sie wird es ihm danken, wenn überhaupt.


Das Schlafzimmer selber hat keine Aussicht. Keine wirkliche. Wozu brauchte es das auch, wenn man dort schlafen und zeugen soll? Zwei kleine Fenster zur Lüftung und nach hinten und vorne ist ein kleines Fensterband angebracht. Schießscharte, falls sich jemand spät nachts verlaufen hat und beim Pfarrer schellt. Dann kann man auf Kipp stellen und Bescheid geben - und sich dem Schlaf oder Beischlaf wieder zu wenden. Praktisch, mag sich da der Architekt gedacht haben.

Bekleidete Wände gibt es dort nicht. Statt dessen weiß gekaltes Mauerwerk der 80er Jahre. Sichtbar und einfach. Das ist fast überall im Haus so. Keine Tapeten, die den Ton dämmen. Praktisch, sozusagen. Und vor allem sparsam. Wozu Tapeten, man weiß eh nicht, wie lange der Pfarrer bleibt. Und jedes Mal neu tapezieren? Bei den Kirchensteuern?

Vor Jahren habe ich mal in Konstanz einen Architekten als Chauffeuse durch Süddeutschland gefahren. Um zwischendurch Geld zu verdienen. Der hatte plötzliche Diabetes bekommen und der Arzt empfahl im, einen Fahrer für seinen Benz 600 zu nehmen. Aus Zufall wurde ich das, trotz der 170 anderen Bewerber, die so gerne 12Zylinder Mercedes fahren wollten. Nun gut, ich fuhr also morgens um sechs mit ihm mit der Fähre über den Bodensee - unvergeßlich schöne Sonnenaufgänge - und dann weiter über Ulm bis nach Ellwangen, wo er ein Krankenhaus umbaute. Dort kamen wir regelmäßig am Dom und Kloster vorbei und während ich aufpassen musste, nicht geblitzt zu werden, schwärmte mein Archtiekt beim Anblick des Klosters: "Frau Kammann, schauen Sie doch nur, schauen Sie nur. Diese Maße !! Wir haben einfach diese Maße nicht mehr." Und er meinte damit, die der Fenster und Türen und der Räume, die auf den Menschen passten. Heute muss der Mensch sich der Architektur anpassen - auch in einem Pfarrhaus.

Das habe ich nie vergessen und dieser Satz kam mir wieder in den Sinn, als wir vor über einem Monat mal durch dieses "Pfarrhaus" gingen. Die Phantasie der Bewohnbarkeit und Pfarrstelle im Kopf. Es war mir ja überhaupt peinlich, die Küsterin um eine Besichtigung zu bitten. Das kam mir viel zu anmaßend vor, solange die Situation um diese Pfarrstelle überhaupt nicht geklärt war. Mir war allein schon diese Besichtigung unangenehm, so als wollten wir in Besitz nehmen, was uns nicht zusteht. Ein gewisser Voyeurismus oder die tiefe, innere Gewißheit, hier nie ankommen zu können. Wir waren Gäste, darauf konnte ich mich verständigen.

Die Küche entpuppte sich als mittlelschwere Katastrophe. Klassisch in Kiefer gehalten. Was soll das? Ein rechteckiger Raum, der mit einer recht eckigen Küche ausgefüllt wurde. Alles an die Wand gedübelt, gerade akkurat. Die Frau, die dort arbeiteten sollte (ich nehme mal an, es ist vom Architekten so gedacht) schaut vor die Wand. Wohin auch sonst. Sie tastet sich von Herd/Kühlschrank weiter bis zur Spüle, die ebenfalls vor schmalen Fenstern angebracht ist. Nein, es gibt keine wirkliche Aussicht dort. Fenster wie Schießscharten, die man am besten mit klassischen Gardinen zu hängt. Bloß keinem Festergucker Einsicht geben, wenn er vor der Türe steht, direkt nebenan. Denn jeder der rausschaut, kann auch gesehen werden. Nur das nicht.

Vielleicht sollte man mit einen Essay über die Bunkermentalität in prtoestantischen, meist neueren Pfarrhäusern schreiben, einen Aufsatz über die architektonischen Prärogativen oder warum nur bestimmte Pfarrer damals gewählt werden konnten. Alle, die heute ausgebrannt sind in ihren Ehen und ihren Dienstverpflichtungen. Damals wie heute noch. Das wäre sicherlich sehr einträglich, ist mir ähnliches Phänomen schon in der Gemeinde Köln Neue Stadt aufgefallen ist: eine durch und durch präsente Kirche mitten auf dem Platz, deren Ausbilicke innen wie Schießscharten in die Wirklichkeit gehen. Gut sichbare Bunkermentalität.

So schlimm wie in Köln ist es in Uedem nicht. Sicher nicht. Aber auch dort ist die Philosophie eines Pfarrhauses in Stein gesetzt deutlich spürbar. Und vielleicht auch der ausgesprochen stille Grund, warum immer dieselben Pfarrer gewählt werden: die die Phantasien der Gemeinde bedienen. Am besten mit Zeugungswunsch. Oder schon einer fast fertigen Familie. Menschen, die bereit sind, weit über die Maße des Erträglichen zu geben. Sich dort beheimaten, wo man scheitern wird. Scheitern muss.

Das Erdgeschoß selber ist kein solches. Die Ebenen verschwimmen in halbseitig gesetze Podeste. Ganz unten findet sich ein Wohnzimmer mit Kamin, dass wie ein Schwimmbad angebaut ist. Einmal quer ins Eck, wie man früher ein voll verglastes, kleines Schwimmbad an das Haus gesetzt hat. Damals in den 70er als Energie noch billig war und das Schwimmbad zu Hause den Hut und die Zigarre der Aufbaujahre ablösen sollte.

So zu besichtigen auch im Haus meines ehemaligen Schwiegervaters, seines Zeichens Superintendent im Bergischen. Der hatte sich auch so ein voll verglastes Schwimmbad mit Aussichten ans Haus gebaut. Rechter Winkel Refugium. So ist auch das Wohnzimmer in Uedem ausgefallen.

Völlig unsinnig, stellt es sich quer. Ein Biotop für den erschöpften Pfarrer. Kamin und gepflegte Zweisamkeit, wenn Sie denn Zeit hat. Das Wohnzimmer als Beziehungsprojektion schützt zum Alltag ab, Küche und Pfarrbüro - aber bleibt in seinem Zitat ein Schwimmbad. Es hat dieselben Maße für eine 15 Meter Bahn, die ich in fünf Zügen bequem durchqueren kann. Es hat nun dieselbe Deckenkonstruktion, diesmal nicht in Kunststofflamellen, sondern in weiß gestrichenem Holz ausgeführt, da kein Wasser eingefüllt wurde. Es hat dieselbe lange Fensterfront zum Rausschauen in den Garten. Die einzig tauglichen Fenster, aber schon so übderdimensioniert, dass sie sich mit nichts zu vertragen scheinen. Zu Versöhnung wurde der Kamin eingebaut. Sinnvoll für den Winter. Behaglichkeit im Schwimmbad.

Sicherlich, man kann leben dort - aber man muss es nicht.
Dem sich quer stellenden Schwimmbad folgend, geht man drei Holztreppen hoch, da man ja Funktions- von Entspannungsraum trennen muss - was gleichzeitig eine geschlechtliche Trennung symbolisiert. Denn jetzt kommt man in das Esszimmer. Eines ohne jegliches Fenster. Von allen Seiten gibt es die weiß gekälkten Mauern. Aussichtslos hier einander zu entkommen.

Man muss es sich vorstellen. Die einzige Aussicht ist ein hoch stehender Fensterspalt auf den Hof. Unansehnliches Durcheinander, daher abgetönt. Unten im Wohnzimmer eine riesige Fensterfront, dann drei Treppen hoch und nichts mehr. Keine schöne Aussicht. Eigentlich gar keine Aussicht. Sonst kein Fenster mehr. Die drei Stufen zum Schwimmbad, rechts und links eine Mauer, vorne die sich öffnende Türe zur Küche. In der Mitte ein Tisch, darüber der helle Fleck an der Decke, dort wo die Lampe hing. Die auch tagsüber brannte und brennen muste. Der Beginn der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Ewiges Licht, falls aus, erneuern.

Szenen sind vorstellbar. Frühstücks-, Mittags- und Abendessen-Szenen. Keine Aussicht. Nur Menschen beieinander wie Insassen. Immer nur Blicke auf Wände oder das Gesicht gegenüber. Der Tisch bietet geringe Ablenkung. Gerade wenn er noch so gedeckt ist. Vielleicht hat man Glück. Aber sonst knallen die Menschen hier uneingeschränkt aufeinander. Kein Entrinnen möglich.

Ich denke, kein anderer Raum bringt diesen Lackmustest für Beziehungen. Aber muss das sein? Ein quadratischer Raum, in dem die Frau aus der Küche und der Mann aus dem Schwimmbad kommt. Wer hat sich so was ausgedacht? Und warum?

Architektur prägt den Menschen. Weitaus mehr, als er sich eingestehen möchte. Wie ein Huhn, wird er ins Pfarrhaus gesetzt, freut sich über seine Stelle und verendet in klerikaler Stallhaltung. Schuld ist wahrscheinlich niemand daran, weil alles unbewusst geschieht. Frage diesen Architekten, was er sich gedacht haben mag, und er wird dir 1000 und eine tolle Geschichte dazu erzählen. Die Wahrheit ist: dieses Haus macht krank. Muss krank machen, weil es so ist, wie es ist.

Die Gemeinde wird es nie so sehen können, wie ich es sehe. Sie wohnen nicht darin. Es ist ein Geschenk für den oder die Kommende/n. Und es ist ein Kriterium zur Stellenbesetzung. Klar doch. Warum auch nicht, wenn eine Dienstwohnung eingebaut ist.

Die Kinderzimmer oben - aufgereiht im Gleichmaß - haben zwei Besonderheiten. Die möchte ich nicht verschweigen. Nach vorne gibt es einen durchlaufenden Balkon. Das ist schön und sehr selten. Nur dass man wenigstens dort aus dem Haus heraus treten kann. Dass man Luft bekommt. Die Aussicht ist gering - sie geht gegen eine weiße Wand über den eigenen Garten hinweg. Aber es gibt diesen Balkon, der alle drei Zimmer von außen verbindet. Das ist eine Ahnung von Idee - immerhin. Als könne man auch draußen sein.

Allerdings ist dieser Balkon in Stahl ausgeführt. Angebaut als schwindelndes Trittgitter, das kein Hund niemals betreten wird. Kein fester Boden unter den Füßen. Eine Metapher für abgründige Beziehungen unter Geschwistern, ungewollt und wohl aus Einsparungen dort hin gesetzt. Nicht zu verwenden als Aufenthaltsort. Durch seine Existenz schon verlorene Möglichkeit von Austausch und Begegnung. Unvorstellbar, dort abends zu sitzen und einen Wein über dem Sonnenuntergang zu trinken. Es bleibt schlicht ein Stahlgitter als Bodenblech. Durch nichts zu kaschieren.


Und vor allen drei Zimmern ist dieser extra lange Gang, wie im Knast an den drei Türen vorbei, davor ein Schrank von mindestens sieben Meter Länge. Durchgehend. Dass muss man sich vorstellen. So etwas habe ich zuletzt in einer katholischen Sakristei gesehen. Dort diente er dem Aufbewahren liturgischer Gewänder, wovon es in der katholischen Kirche ja eine Menge gibt. Nun also ein sieben Menter Schrank mit vier Abteilungen (Pappa&Mamma, drei Kinder). Alle durch eigenes Schloss gesichert. Diese runden Schlösser, wie man sich auch in Büroschränken findet. Da steckst Du den Schlüssel rein und drehst ihn um, dann musst du das Schloss selber drücken und dann kannst Du an die Regale. Die Hemden. Was auch immer. Das alles mal vier - in diesem Flur wie ein Gefangenentrakt. Eine Intimität, wie man sie aus Umkleideräumen kennt.

Von der Dusche am Ende des Ganges möchte ich nicht mehr schreiben müssen. Vielleicht wäre es noch erwähnenswert, dass das enge Treppenhaus genau denen im Landeskirchenamtes entspricht. Denen, die nicht repräsentativ sind, sondern sich zwischen den Etagen verbergen. Eng und funktional. Diesmal kein weiß getünchter Stein, sondern ungestrichener, verschalter Beton als Begleiter an der Seite. Mit diesen Beton Überschüssen aus den Verschalungen, die sich wie kleine Linien an der And etablieren. Eine Zeichen letzter Verschwendung - zugleich ein Dokument klarer Betonstruktur. Überhaupt scheinen die Parallelen zum Landeskirchenamt nicht zufällig zu sein. Die Maße stimmen überein. Die darin gebotene Definition des Menschen auch. Es wird vielleicht derselbe Architekt gewesen sein, was durchaus möglich erscheint.

Architektur, so sage ich, definiert den Menschen. Wir können uns lange über Stallhaltung in Zeiten der Vogelgrippe unterhalten, aber wir müssen hier und da auch mal über die Bedeutung von Architektur im Pfarramt reden lernen. Zumal wenn man überlegt hat, ernst haft überlegt, dort einzuziehen. Dann sollte man wissen von den unausgesprochenen Implikationen und der nur bedingen Möglichkeit, diese Zuschreibungen in Pfarrhäusern zu ändern. Gegen die Mauern ist kein Kraut gewachsen.

Sicherlich bin ich dazu anders sensibilisiert, denn das Thema der Zuschreibung und Definition ist mir nahe. Ich habe es selber ja erlebt und erlitten. Zwischen den Geschlechtergrenzen und mitten drin. Die Definition dort ist deutlich und klar. Der Frau eine quadratisch, vielleicht perfekt eingerichtete Kiefernalltagsküche, mit wenig Aussichten. Kaum Spass am gemeinsamen Kochen. Die Türeöffnet sich dann für ein Esszimmer ohne Ausblick. Der fokussierte Tisch. Vaterunser Übel Amen. Drei Treppen zur Entspannung oder zurück zur Arbeit, die Landeskirchenamtstreppe hoch ins eheliche Schlafzimmer, ohne Raum und Tapete, über dem Eingang gelegen. Ab und an, so denke ich, darf auch die Frau des Hauses ausspannen und in langen Lebenszügen im Schwimmbad Wohnzimmer zum Baden gehen, den Kamin anzünden. Sich bei ihrem Beschützer ankuscheln. Aber eigentlich ist es ja auch kein Wohnzimmer, sondern ein architektonisches Sprengel, eine verlogene Welt. Selbst wenn der Kamin noch glimmt.

Klar kann man in Uedem Pastor und Pastorin sein. Und auch dort leben. Man muss sich dazu nur arrangieren können mit diesem vor-bereiteten Platz. Mit alle dem, was er transportiert und aussagt und ich bin sicher, es gibt mehr als einen Pfarrer, der das sich und seiner Familie locker zumuten will, bevor er gänzlich scheitert. Früher oder später bekommt jeder, was er verdient.

Alles im Leben ist und bleibt Aneignung. Sagte ein guter Freund von mir. Aber man sollte die Determinanten kennen und den Preis, den man dafür zahlen muss. Selig, wer dort nur wohnen kann.

Denn wer wirkliche Menschen will, darf ihnen auf Dauer solche Räume nicht mehr anbieten. Wer dort leben kann? Vielleicht ein Single, der nicht scheitern muss, weil er es schon hinter sich hat. Das wäre eine Idealbesetzung - sicherlich und gewiß. Alles andere, so ist zu befürchten, wiederholt, was vorher schon war.