Mittwoch, Oktober 25, 2006

Das Jona Syndrom

Hier nun ein weiteres Kapitel meiner geliehenen Identitätsmäntel. Oder vielleicht besser in diesem Fall: der Identitäts versichernden Steine, die man sich in den Mantel steckt, um sein zu können. Um sich versichern zu können. Geschichten, die einem Leben Basis bieten sollen. Denn wie bringen wir in Erfahrung, was wir sind und welche Muster wir leben? Welchen Erwartungen wir folgen. Es gibt so einen inneren Spiegel, der uns in die Lage versetzt, Ziele anzustreben, Leben möglich zu machen. Dazu müssen wir ein Muster finden, ein Skript, das für unser Leben hier und jetzt stimmig zu sein scheint. Ein Stein in die Tasche nehmen, der uns erinnern kann.


Die letzten zwei Jahre war die Geschichte des Jona so ein Stein für mich. Nach langer Reise ankommen und dennoch nicht zufrieden sein können. Jona - das wurde mir zur notwendigen Chiffre, um überhaupt wieder in der Kirche, einer Gemeinde predigen zu können. Rückwege zu gehen, ohne sich selber zu verlieren.

Ich selber hätte es ja kaum für möglich gehalten, dass es da noch einmal einen letzten, wenn auch vergeblichen Anlauf geben könnte, zurück in diese Kirche, zurück in meinen gelernten Beruf. Pastorin zu sein - das war mir mehr als einen Beruf zu haben. Pastorin zu sein, das war meine Ordination vor allen Menschen. Seht her, eine Frau. Seht her, ein Mensch mitten unter Euch. Seht her, da bin ich. Die Ordination, für viele nur ein Durchgangsstation auf dem automatischen Weg in das Pfarrerdasein sah bei mir etwas anders aus.



Sieben Jahre hat es gedauert, bis ich dort sein konnte. Sieben lange Jahre voll Angst und Zittern. Sieben Jahre lang den Weg von Mann zu Frau, dieser Wechsel - mühsam und unter Schmerzen. Aber immer mit der Erwartung, dort auf der Kanzel ankommen zu können. Da zu sein. Von 1986 bis 1993 nahm ich diese Strecke, nicht einfach aber ich schaffte es. Ich war ordinierte Pastorin. Ich war angekommen.

Nach 1993 zersplitterte alles unter den Händen. Und weitere sieben Jahre später, im April 2000 wurde ich dann aus dem kirchlichen Dienst entlassen. Keine Stelle, keine Absicherung. Ein Sonderdienst, unter dem ich aus merkwürdigsten Umständen entlassen wurde. Wachsende Entfremdungen. Niemand hatte mich gesehen, alle erwarteten eine funktionierende Frau. Begegneten mir mit ihren eigenen Erwartungen.

Es war vielleicht gar nicht mal die Tatsache, dass ich gewechselt war, sondern die Enttäuschung, dass ich nicht die geworden sind, die sich die Männer im Landeskirchenamt zusammen phantasiert haben. Eine, die dankbar ist für alles. Die einen Knicks macht und sich verdankt dem Großmut derer da oben. Immerhin ist es in allen kirchlichen Stellungnahmen auffällig, dass dieser Tenor herrscht. Dass ich ein undankbares Mädchen bin. Dass sie doch viel und noch viel mehr für mich getan hätten. Ich denke wirklich, bis heute leben sie in dieser Projektion, für mich nur gute Onkel gewesen zu sein, die es gut mit mir meinten.

Ich dagegen entwickelte mich nicht konform. Bestätigte nicht ihre Erwartungen. War nicht dankbar, angepasst und artig. Die Verwechslung begann da, wo man meinte, ihre kirchliche Erlaubnis würde mich am Leben halten. Ihre Toleranz wäre es, die mich ermöglichte - als Frau. Für sie war das dann ein treffliches „Experiment Mensch“ und es gab sicherlich nicht wenige, die sich dieses Schauspiel nicht entgehen lassen wollten.

Sicher und bekannt ist mir, dass es gerade bei den angeblich toleranten Männern der Fall war. Da gab es einen Pfarrer, der sich damals sehr für Homosexualität einsetzte, der sich immer wieder von mir fasziniert zeigte, der mich bewunderte ob meines un-erhörten Mutes und auch in den Tagungen der Ev. Akademie stets von mir zu künden wusste. Ungefragt und ohne Rücksicht. Seht her, sagte er und scheute sich nicht, mit dem Finger gar auf mich zu zeigen. Allein, kein einziges Mal hatte er mit mir geredet. Und als es dann geschah, spät nach dieser Zeit, da merkte ich, dass er all seine runter geschluckte eigene Sexualität, all sein verklemmtes Schwulsein selber mit hinein gepackt hatte in diese Bewunderung. Sie tut, was ich mich nicht traue. Ein Engagierter, der sich umzingelt hatte und im Beamtenschrank saß.

Ich glaube wirklich, dass mein Scheitern in der Kirche genau damit zu tun hatte: Dass ich eine lebendige Projektionswand wurde für die eigene Gutmütigkeit, für die Wohltätigkeit der Kirche mir gegenüber, in der sie sich selber gefallen konnte. Also eine durch und durch narzistische Angelegenheit. Daher wunderte es mich nun nicht mehr, dass niemand in dieser Zeit mit mir sprach. Aus dieser Falle konnte ich nicht entkommen. Es gab kein Entrinnen. Da – und nur da – meinten Sie es ernst.

Bleiben hätte ich nur können als Beweis ihrer eigenen Wohltat. Dabei verwechselten sie oft Homosexualität mit meiner Reise. Verstanden nicht, dass es Unterschiede gab. Verstanden nicht, dass es eine Reise ist. Erwarteten, dass man heimlich einen Durchbruch durch die Toiletten machte, die Seiten wechselte und strahlend wieder auf der anderen Seite heraus kam. Allein, so war es nicht.

Unglaublich bliebt mir daher, dass sie wohl bis heute nicht begriffen hatten, dass es ein Gesetz in Deutschland gibt, das diese Dinge regeln und begleiten kann. Dass es nicht ihre Barmherzigkeit ist, die mich ins Leben bringt. Sondern meine Verzweiflung. Und die Wahrnehmung meiner Rechte auf Grundlage eines Gesetzes. Ich glaube, das haben sie bis heute nicht verstanden. Wie kann sie sich so was heraus nehmen?

Es wunderte daher nicht, dass allein die Umschreibung meiner kirchlichen Zeugnisse mehr als ein halbes Jahr dauerte. Da bekommt man einen neuen Personalausweis, eine neue Geburtsurkunde und die Kirche weigert sich, das anzuerkennen. Ist völlig blind auf diesem Auge. Mein Abiturszeugnis gab es innerhalb von zwei Tagen zurück: Neu und korrekt ausgefüllt auf meinen Namen: Karin Kammann. Die Kirche brauchte tatsächlich sechs Monate und vier Tage dafür. Unglaubliche.

So ging es dann nach der Ordination scheibchenweise zurück. Man hatte sie mir erlaubt, so dachten sie. Und der Abschied kam genau da, wo ich Menschen gebraucht hätte. Wo ich hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken lag. Da hat mich Kirche fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Wo unter Beweis stand, was sie war für mich. Wo sie zeigen konnte, was sie verstanden hatte von meinem Weg. Da wurde man vielleicht gewahr, dass das eben kein „Experiment“, sondern ein Mensch ist. Und sich auf den Menschen einlassen - das war gänzlich unmöglich.

So verbrachte ich dann die Jahre 2000 - 2005 zumeist damit, einen Job zu suchen. Erfahrungen zu sammeln. Innerlich Abschied zu nehmen. Weit weg musste ich und das Muster der damaligen Zeit fand sich wieder in den Vertriebenen, den in Zürich Exilierten. Diese Stadt zog mich magisch an. Und als ich zum ersten mal im offenen Cabrio die Limmat entlang fuhr, kamen mir die Tränen. Einfach so. Als wäre dort ein tiefes Aufamten. Ein Ankommen und eine Flucht, über hunderte von Kilometern hinweg.

Das Rheinland mit den guten Onkeln war weg. Weit hinter mir. Und mir war bewusst, dass ich dort nicht werde leben können. Dort war verbrannte Erde. Ungeklärte Situationen. Die Projektion dieser klerikalen Männergesellschaft. Dorthin konnte und wollte ich auf keinen Fall zurück. Damals.

Aber - ich tat es dennoch. Unerkannt und klein. Zurück in diese Gemeinde, die mich ordiniert hatte. Zurück in diese wunderschöne Petrikirche mit ihren terracotta warmen Boden, den blauen Engelfenstern. Zurück in die Gemeinde in der Mülheimer Altstadt, so als wollte ich endgültig noch mal Kontakt aufnehmen mit dem Verlorenen. Eine Überlegung damals war sicherlich diese: Hier können Sie Dir die Kanzel nicht verweigern. Hier haben sie mich ordiniert, wie sollte das anders gehen.

Und so kam ich dann an in Mülheim, in einer kleinen Wohnung unter dem Dach. Lebte die Vertreibung und das Wiedersehen. Vertraute Wege an der Ruhr. Joggingstrecken durch die Saarner Aue. Startende Schwäne vor dem Ruhrwehr. Und vagabundierte durch die Berufe. Innerhalb von drei Jahren war ich Key Account Managerin Mobile Internet im Düsseldorfer Medienhafen, Kontakterin einer Werbeagentur, Trainerin einer Sales Task Force, Marketing Unterstützung einer IT Firma, Energie Optimiererin für eine Firma aus Lugano, Außendienstlerin für EC Cash Terminals im Direktvertrieb, DKV Bezirksrepräsentantin in Mülheim Ruhr und fuhr zwischendurch auf einem Kreuzfahrtschiff als Hausdame von Sri Lanka nach Mallorca. Ein Leben im Da-Zwischen.

Mein jüdischer Freund Shimon sagte einmal: "Karin, Dein Job ist es, Jobs zu bekommen." Ich wunderte mich nicht sehr, dass das auch ein Job sein könnte. Der innere Verschleiß jedoch wurde spürbar. Dennoch ging ich auch meiner Predigttätigkeit in Mülheim weiter nach, während die dort bestallten Pfarrer in ihre Sommerhäuser am Meer fuhren. Einmal Predigen weniger war ihnen nur willkommen.

Kurzum: Ich kam mir vor wie Jona, der auf allen möglichen Schiffen anheuerte, aber doch nicht bleiben konnte. Jona, der vor seinem Auftrag floh. Der nicht annehmen konnte, was von ihm verlangt wurde. Es ist keine angenehmen Erfahrung, immer wieder von Deck zu gehen. So, als sei mir keine andere berufliche Heimat beschieden, denn mein gelernter Beruf. Sicherlich habe ich gelernt, irgendwie zu überleben. Aber ich war immer noch Pastorin, wenngleich ohne Bezüge im Ehrenamt.

Verwunderlich war schon die gnädige Ignoranz der Mülheimer Kollegen. Alle drei Monate meldeten sie sich, um den Predigtplan fertig zu stellen und damit war es auch erledigt. Niemand kam mal bei mir vorbei. Ehrlich gesagt, das hätte ich auch nicht erwartet. Aber es wäre ein Zeichen gewesen.

Dann mit dem Unzug nach Wachtendonk und durch eine obskure, krude Eskalation kam ich wieder auf die Kanzel. Kirchengemeinde Uedem. Ehrenamtliches Predigen. Was man ja tun muss, um sich überhaupt den Beruf zu erhalten. Und dann saß ich da. Mit Tränen in den Augen bei der ersten Fahrt zum Gottesdienst. Ich, die ich innerlich doch auch Abschied nehmen musste, sollte wieder predigen? Wieder in Kontakt mit diesem Beruf gehen? Meinem verlorenen Beruf? Wie sollte das nach all den Erfahrungen gut gehen können?

Dennoch: ich tat es. Und wurde überrascht von einer Gemeinde, die offen war. Dies sich neugierig zeigte, interessiert. In einer gewissen Weise menschlich. Die erste, die eine Resonanz gab und mich einlud, da zu bleiben. Nicht mehr zu fliehen. Als der Pfarrer dann erkrankte, dachte ich: Also gut, versuche es ein aller letztes Mal. Geh zurück in deinen Beruf. Mach ein Ende mit den beruflichen Verlegenheiten und Ausflüchten. Versuche es ein letztes Mal.

Es war das, was ich heute das Jona-Syndrom nenne. Dass ich den Rückweg nahm in die Hoffnung. Die Hoffnung, dennoch da sein zu können - als Mensch in dieser Kirche. Als Pastorin für die Menschen. Und ich spürte, wie alles nachwuchs. Ja, da war nichts verloren gegangen. Es tat gut, die Beerdigungen zu machen. Den unmittelbaren Kontakt mit den Menschen wieder zu suchen. Einer sagte gar: "Nach ihren 15 Minuten Ansprache habe ich mehr gelernt von meiner Mutter als in den 25 Jahren zuvor." Es tat gut, den Konfirmanden Unterricht mit zu machen. Gut, sich zu verbinden und da zu sein. Es war wie ein langsames Erwachen, sicherlich skeptisch beobachtet. Blinzelnd noch

Sollte ich mich darauf einlassen? Nach all den Verletzungen in den letzten Jahren? Heute kann ich sagen, ich hätte es vielleicht besser nicht getan. Heute kann ich sagen, mein Jona hatte keinen Erfolg. Denn die biblische Geschichte geht ja anders weiter: Jona folgte seiner Berufung und ging nach Ninive, der großen Stadt und predigte Buße. Und die Menschen bekehrten sich zueinander. Nahmen einander an, was Jona so wütend machte, dass er sich ganz verbiestert zurück zog. Denn damit hatte er nicht gerechnet.

Kann sein, ich habe zuletzt zu viel versucht. Aber es muss auch ein Ende haben und finden. Das Zeichen des Jona - es ist die Signatur eines Scheiterns. Die erneute Feststellung, nur mich selber zu haben. Und kann sein, dass das Schreiben all dieser Erfahrungen für mich jetzt der Fischbauch ist, indem Jona getrost sein Lied sang. Ich bin mir sicher: die Angst wird wieder kommen. Aber nicht jetzt. Ich bin mir sicher: Für meine Wut wird vielleicht auch ein Kraut gewachsen sein, wie damals bei Jona, dem Gott zu guter Letzt einen Schattenbaum schenkte.

Zwischen Fischbauch und Schattenbaum möchte ich weiter schreiben. Vergessen all die vielen Kämpfe ums eigene Überleben. Die schlaflosen Nächte. Der stumme Zorn. Gestern schrieb mir Brigitte eine Karte. Sie, die mich damals vor 13 Jahren mit ordiniert hatte. Es kommt zusammen, was zu Ende geht. Ein alter Kreis schließt sich. Das Neue noch nicht in Sicht. Bleiben wir zuversichtlich. Auch wider dem Verbote.

Jona hat abgedankt. Es gibt keinen Weg nach Ninive. Dort, wo das Geld und die Macht ist, im Landeskirchenamt, wird es keinen Weg der Buße geben. Dort sitzen die, die nun das "Experiment Mensch" zu den Akten legen können. Und sinnierend sagen: "Schade, wir haben ihr doch alle Möglichkeiten gegeben." Und dann weiter machen wie bisher.


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